BS 2019 / 1 - Wir machen uns die Welt, widdewidde wie sie uns gefällt.

Wir machen uns die Welt, widdewidde wie sie uns gefällt.

Warum Ovelgönne in Niedersachsen ein besonderer Ort ist? Auf jeden Fall leben hier viele Menschen mit Behinderung. Und in dem 1.000-Einwohner-Dorf gibt es alles, was das Herz begehrt. Ob da ein Zusammenhang besteht?

Von Bettina Schmoll, GLS Bank

Eigentlich hatte vor drei Jahren der letzte Lebensmittelladen hier in Ovelgönne dichtgemacht. Wie zuvor schon die Apotheke, die Drogerie, der Metzger und die Sparkasse. So kennt man das von allen Dörfern hierzulande. Wer aber jetzt hierher in die Wesermarsch kommt, kann im BurgdorfLaden frische Brötchen, Eier und Käse kaufen, den Lottoschein oder ein Päckchen abgeben, Bargeld abheben und nebenbei einen Plausch halten — viel mehr als nur ein Geschäft. Dafür sorgte Ilka Morr, die Geschäftsführerin der Stiftung Lebensräume Ovelgönner Mühle, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. „Wir konnten die Schließung nicht hinnehmen“, erzählt sie. „Da wäre doch Lebensqualität verloren gegangen! Wo sollten die Menschen in dieser strukturschwachen Region sonst einkaufen?“

Dabei kommt die Initiative gar nicht hier aus der Region: Vor 30 Jahren hat eine kleine Gruppe von Pädagog*innen und Eltern behinderter Kinder aus dem Ruhrgebiet eine alte Mühle am Ortsrand gekauft, damals schon mit einem GLS Kredit. Dort sollten behinderte und nicht behinderte Menschen zusammenleben. „Im Dorf war alles da“, so Ilka Morr. „Kirche, Kneipe, Friseur, Ärzte, Laden, Bank, die Wege kurz, alles überschaubar.“ Mit 18 Menschen startete die Einrichtung. Die erste Zeit hat Ilka Morr in guter Erinnerung: „Wir wurden ganz selbstverständlich in die Nachbarschaft aufgenommen.“ Die Vereine luden sie ein, im Dorfladen durfte es auch schon mal etwas länger dauern, bis das Geld abgezählt war. In der Kneipe waren alle willkommen. — Aber die Trends gingen auch an Ovelgönne nicht vorbei. Eine Einrichtung nach der anderen musste ihre Tore schließen.

Dem wollte die Stiftung nicht tatenlos zuschauen, und sie sah darin die Chance, neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen, als einen Grundpfeiler für ein möglichst selbstbestimmtes Leben. Als 2006 das traditionsreiche Landhotel König von Griechenland versteigert wurde, war die Frage: Warum nicht Hotelbesitzer werden? Die Rechnung ging auf. Im König treffen sich jetzt die Dorfbewohner*innen zum Mittagstisch, und es kommen viele Gäste von außerhalb. Der wunderschöne Festsaal bietet Raum für Theater, Konzerte und Feiern. Und es gibt eine Kegelbahn.

Mit diesen positiven Erfahrungen wurde eine Lagerhalle gekauft, in der jetzt eine Veredelungsküche, eine Keramikund Kerzenwerkstatt, eine Hausmeisterei und eine Wäscherei untergebracht sind. Dann folgte der Bau eines barrierefreien Wohnhauses für ältere Menschen. Und jetzt der Dorfladen, in dem jeder willkommen ist, wie früher: „Jeder bekommt die Zeit, die er braucht“, ist das Motto von Urte Kahle. Sie hat den Laden zur gefragten Drehscheibe für Köstlichkeiten aus der Region gemacht. Neben vier Mitarbeiter*innen mit Assistenzbedarf arbeiten hier ein Pädagoge und eine Auszubildende. Wer nicht selbst kommen kann, wird mit dem Bollerwagen beliefert. Das kommt gut an: „Der Laden brummt“, so Urte Kahle. 88 Arbeitsplätze hat die Stiftung mittlerweile geschaffen, davon 50 für Menschen mit Behinderung — der größte Arbeitgeber im Ort.

„Wenn man erleben will, wie Inklusion ganz selbstverständlich funktioniert, muss man nach Ovelgönne kommen.“  Ilka Morr

„Ovelgönne ist so ein liebenswerter Ort“, sagt Ilka Morr. „Durch die Weiterentwicklung der Infrastruktur wollen wir den Menschen hier, die uns mit offenen Armen empfangen haben, etwas zurückgeben.“ Das jüngste Projekt hat sie im Sommer 2018 gestartet: Eine 2,5 Hektar große Grünlandfläche direkt hinter dem Mühlengelände wurde mit Streuobstbäumen bepflanzt. Durch die sozial-ökologische Bewirtschaftung entsteht ein Lebens-, Lern- und Begegnungsraum für Menschen, Tiere und Pflanzen.

Dieses Ineinandergreifen von Sozialem, Ökologie und Ökonomie macht Ovelgönne auch zu einem viel beachteten Modellprojekt für Postwachstumsgesellschaften. Oder wie uns eine alteingesessene Bewohnerin sagt: „Die Menschen von der Ovelgönner Mühle mit ihren vielfältigen Projekten sind das ganz große Los für Ovelgönne.“

ovelgoenner-muehle.de

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Ein Artikel aus dem GLS Kundenmagazin Bankspiegel. Diesen und viele andere spannenden Artikel finden Sie im Blog. Alle Ausgaben des GLS Bankspiegel als PDF finden Sie unter: https://www.gls.de/bankspiegel/.
  1. Michael und Kirsten Maaß

    Dort wird wirklich tolle Arbeit geleistet. Meine Frau und ich haben in 2006 in Ovelgönne gelebt und gearbeitet. Dort standen wir mit Ilka Morr und ihren “Perlen” im Austausch. Solches Engagement ist sehr unterstützenswert und ein Segen. Wir wünschen alle Beteiligen und Gästen viel Spaß und Erfolg.

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