Rund 20 Bewohnerinnen und Bewohner von Hof Prädikow sitzen an einer langen Essenstafel im Freien zusammen.

Vom Träumen ins Tun

Hof Prädikow in Brandenburg: Ein außergewöhnliches Lebensprojekt

Auf Hof Prädikow in Brandenburg treffen sich die Unterschiede: Alteingesessene und Zugezogene gestalten im historischen Umfeld gemeinsam einen modernen Lebens- und Arbeitsort. Ziel ist es, nie fertig zu werden.

Vom Hagel sprechen sie alle. Ende Juli hat es in Brandenburg eine „Superzelle“ gegeben, Unwetter mit Starkeisregen. Der Hagel hat die Blätter der Ulmen an der Dorfstraße durchsiebt, die von der Bundesstraße 168 zu Hof Prädikow führt. Auch die Sonnenblumen im Gemüsegarten, wichtige Schattenspender im heißen Sommer, sehen zerschlagen aus. Die Beete unter ihnen konnten sie aber gut beschützen. Ein Stück weiter hat es den hundert Jahre alten Walnussbaum erwischt. Und mit ihm fast alle 32 Tomatenpflanzen, eine eigene Anzucht aus dem Saatgut alter Sorten, seit Februar sorgsam großgezogen. Zum Glück, sagen die Prädikower, haben unsere Gebäude gehalten und alle Fenster auch.

Der größte historische Vierseithof in Brandenburg

Hof Prädikow, das ist der größte historische Vierseithof Brandenburgs und zugleich ein ans Glasfasernetz angeschlossenes Wohn- und Arbeitsprojekt. Der Hof liegt eine Autostunde östlich von Berlin oder 30 Minuten mit dem Rad ab S-Bahn-Station Strausberg Nord. Fünfzehn unter Denkmalschutz stehende Gebäude verstreuen sich hier auf neun Hektar Boden. 20 Jahre standen sie leer, waren zum Teil unbewohnbar.

2016 hat die Stiftung trias das Gelände gekauft und im Erbbaurecht an die Berliner Mietergenossenschaft SelbstBau e.G. verpachtet. Zusammen mit ihren Mitgliedern entwickelt die Genossenschaft das Areal weiter. Die GLS Bank hat verschiedene Bauabschnitte finanziert. Nach aufwendiger Sanierung sind einige Häuser inzwischen wieder bewohnbar. Nun geben sie rund 50 Erwachsenen mit 20 Kindern ein Zuhause – sie alle wollten von der Stadt aufs Land oder aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft.

Das Bild zeigt Philip Hentschel und Julia Paaß im Gespräch auf dem Hof.
Philip Hentschel und Julia Paaß sind seit Projektbeginn auf Hof Prädikow dabei. Sie verbindet der Wunsch nach einem guten Lebensort.

Gemeinsam schaffen, was alleine nicht geht

Philipp Hentschel und Julia Paaß bringen ihre Ideen seit dem Projektbeginn 2015 auf dem ehemaligen Gutshof ein. Philipp ist in der Region aufgewachsen, hat fünfzehn Jahre Hauptstadt hinter sich und liebt erstaunlicherweise: Einfamilienhäuser. Warum er dennoch nicht hinter Vorgarten und Hecken gelandet ist, erklärt er so: „Mir ist es viel wichtiger, mit der Familie einen guten Lebensort zu haben, an dem wir uns mit anderen Menschen verbinden können, gerne fünfzig bis hundert.“

Julia stammt aus Nordrhein-Westfalen. Als sie vor zehn Jahren im Dorf Prädikow landete, beäugte sie den Hof lange von ihrer Terrasse aus. Bilder stiegen auf, was sich aus diesem Gelände alles machen ließe – immer wieder pfiff sie sich selbst zurück: Hör‘ auf mit der Träumerei! Doch Weihnachten 2016 kam sie vom Träumen ins Tun: Die Stiftung hatte den Vertrag unterzeichnet und sie setzte ihre ersten Schritte aufs Gelände. „Jetzt darfst du hier wirklich die Sachen machen, die du dir immer vorgestellt hast“, dachte sie. Stück für Stück wird seitdem gemeinschaftlich gewohnt, gelebt, gearbeitet, geteilt, gegessen, gefeiert. Die Vision ist, in der Gemeinschaft zu schaffen, was allein nicht zu schaffen wäre.

Das Beste aus vielen Welten vereinen

Ihren kleinen und großen Herausforderungen begegnet die Gemeinschaft mit Plan und Struktur. Der gemeinnützige Verein Hof Prädikow gibt den Rahmen und fördert Denkmalpflege, Bildung und Kultur.

Für konkrete Aufgaben schließen sich die Menschen auf dem Hof in Arbeitsgruppen zusammen. Nicht jeder muss in allen Lebensbereichen Kenntnisse haben, das entlastet viele, auch Julia. „Ich kann selbst entscheiden, in welcher Arbeitsgruppe ich gut aufgehoben bin mit meinen Fähigkeiten“, erklärt sie. „Ich muss also keinen Spielplatz bauen, keinen Gemüsegarten anlegen oder Expertin in Raumplanung sein. Wir unterstützen uns da gegenseitig. Keiner ist allein. Das macht Gemeinschaft aus: Wir sorgen füreinander, und wir fühlen uns verbunden.“

Ein Leitmotiv des Projekts lautet: das Beste vieler Welten vereinen. Ein anderes: kein urbanes Ufo im ländlichen Raum sein. Der Wunsch ist, dass die Menschen aus dem Dorf und die Zugezogenen gemeinsam neue Infrastrukturen bilden.

Das Bild zeigt eine Frau im Garten bei der Arbeit.
Eva Hüsselmann ist aus dem belebten Berlin aufs Dorf gezogen. Sie lebt seit Anfang 2023 auf Hof Prädikow und ist Teil der Gartengruppe.

Vom belebten Reuterplatz in Berlin ab aufs Land

Eva Hüsselmann gehört der Gartengruppe an. Die funktioniert nach dem Prinzip: „Zwei haben Ahnung, der Rest lernt.“ Sie erzählt die Geschichte des schwarzen Storchs, nach dem das Scheunen-Café benannt ist. Ein Storch soll in den Kamin der Brennerei gefallen und unten lebend wieder herausgekommen sein, allerdings schwarz vom Ruß.

Mit ihrem Eimer voller Mangold und roter Beete geht Eva an den Schuttbergen im Innenhof der Wohnanlage vorbei nach Hause. Seit Januar wohnt sie im Gutsverwalterhaus, das einen barrierefreien Zugang hat und Wohnen im Alter ermöglicht. Eva ist 68 Jahre alt, hat früher am belebten Reuterplatz in Neukölln gelebt – und wollte unbedingt aufs Land. Seit zweieinhalb Jahren ist sie bereits im Projekt. „Das ist auch gut so, wenn ich so viele Menschen kennenlernen muss.“ Natürlich gebe es auch mal Konflikte, sie müsse mehr Kompromisse machen, das Leben sei hier sehr anders. Aber ihr fällt auf: „Ich bin noch nie in meinem Leben so oft bei meinem Namen genannt worden.“

Zwei Frauen benutzen eine Rampe, um barrierefrei in ihre Wohnung zu gelangen.
Von Bayern nach Brandenburg: Barbara Reiner-Jilke wollte näher bei den Kindern leben. Hier bedient sie mit Pflegerein Astrid Müller die “Rolli-Rampe”, mit der sie Barrieren überwindet.

Die Hofälteste stammt aus Bayern und vermisst den Chiemsee

Am Gutsverwalterhaus sind die Treppenaufgänge zu den etwas erhöht liegenden Wohnungen fertig, der Weg davor ist Sand und Erde. Abdrücke von Traktorenreifen sind deutlich zu erkennen und der Regen der vergangenen Nacht hat eine Pfütze gebildet. Captain, der Kater von Barbara Reiner-Jilke, macht gelassen einen Bogen darum, während sie noch ruft: „Pass auf, Captain, da ist es nass!“

Barbara fährt mit ihrer AWO-Pflegekraft Astrid Müller auf die Rampe. Sie wollen zum Briefkasten um die Ecke. „Hast du scho‘ g’scheit draufgedrückt, oder?“ – „Ja, der ist halt langsam.“ Die “Rolli-Rampe”, mit der sie Barrieren zu ihrer Wohnung überwindet, bewegt sich zwar nur in Zeitlupentempo, ist aber Gold wert für die Hofälteste. Ohne Rollator geht die 79-Jährige nirgends hin.

Barbara ist in die Nähe von Sohn und Tochter gezogen, doch so ganz angekommen ist sie noch nicht auf Hof Prädikow. An die Gegend muss sich die gebürtige Bayerin noch gewöhnen und sie vermisst ihren Chiemsee. Während der Corona-Pandemie saß sie dort allerdings zwei Jahre allein in der Wohnung fest. „Auf dem Hof holen mich die anderen immer nach draußen.“ Und auch ihr ist aufgefallen: „Sie rufen ständig meinen Namen, so oft habe ich den lange nicht gehört.“

Hof Prädikow: Einst Rittersitz, dann Mastbetrieb

Der Hof, den Barbara und Eva für ihren Lebensabend gewählt haben, war im 15. Jahrhundert ein Rittersitz. 1900 wurde das Gutshaus neugestaltet, es gab Scheunen, Tierställe, Brauhaus und Brennerei, eine Schmiede und zwei Windmühlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg produzierte die Brennerei Alkohol für die Industrie, gewonnen aus Kartoffeln und Getreide. Ende der 1960er Jahre wurde der Hof zum Mastbetrieb. Dreitausend Schweine, dreitausend Bullen und Milchkühe, tausend Schafe, Geflügel. Dazu eine Kantine, eine Kneipe mit Theaterbühne und Tanzsaal.

An diese Vergangenheit erinnert heute die Scheune Prädikow. Der hohe Raum ist mit Café, Coworking Space, Dorfwohnzimmer, Meetingraum und Saal zum Treffpunkt geworden. Die Instandsetzung war keine leichte Aufgabe. Auf dem ganzen Hof ist die Gebäudesubstanz manchmal so schlecht, dass ein massiver Rückbau erforderlich ist und zum Teil nur noch eine Außenwand stehen bleibt. Als der Boden der Scheune aufgemacht wurde, roch es plötzlich nach Tankstelle. Allen war klar: Hier ist wohl viel Diesel abgelassen worden. Allein dadurch entstanden Mehrkosten in Höhe von 20.000 Euro.

Ernte im Gemüsegarten: Kaufen, spenden, schenken

Am Eingang zum Hof gibt es Basilikum zum Mitnehmen: Busch-Basilikum, Heiliges Basilikum, mittelgroßes Basilikum und Thai-Basilikum. Gegen einen Euro Spende für die Ukraine dürfen sich Vorbeikommende bedienen. Außer zu Hochzeiten von zum Beispiel reifen Kürbissen wird die Ernte aus dem kreisförmig angelegten Gemüsegarten aber nicht gespendet oder verschenkt. Wenn die Mitglieder der Gartengruppe nicht alles selbst verbrauchen und folglich etwas übrigbleibt, können die anderen Hofbewohner es kaufen.

Zwölf Menschen auf Prädikow haben sich der Garten-Arbeitsgruppe angeschlossen. Sie teilen sich die anfallenden Kosten für die Bewirtschaftung, meist sind es zwischen 1.200 bis 2.000 Euro pro Jahr. Jedes Gruppenmitglied gibt in der Bieterrunde an, was es a) mindestens und b) höchstens übernehmen kann und eine Software berechnet dann die zwölf Einzelbeiträge, mit denen die Gesamtsumme gestemmt wird.

Im Rohbau eines Hauses stehen drei Frauen und unterhalten sich. Mit dabei sind ein Kind und ein Hund.
Petra Rickensdorf (links) geht jeden zweiten Tag in den Gemüsegarten des Hofes – und sehr oft auf die Baustelle, wo ihre zukünftige Wohnung entsteht.

Die Gartenfee wohnt im Bauwagen

Damit alles wächst und gedeiht, geht Petra Rickensdorf jeden zweiten Tag in den Gemüsegarten. Die anderen nennen sie die „Gartenfee“, ohne deren Engagement und Fachwissen der Garten nicht so aussehen würde, wie er aussieht. Sie wohnt wenige Meter entfernt in einem Bauwagen, nun schon im dritten Jahr. Sie wartet auf das Ende des nächsten Bauabschnitts, dann zieht sie endlich in ihre Wohnung. Petra ist 52 Jahre alt, hat zwei erwachsene Kinder, ihr Mann Rolf arbeitet unter der Woche in Berlin. Den Bauwagen wollten die beiden ursprünglich nur an den Wochenenden beziehen, aber nach drei Wochen hat Petra es in Berlin nicht mehr ausgehalten. „Ich konnte dort einfach nicht mehr wohnen“, sagt sie, „deshalb habe ich beschlossen, mir hier eine Arbeit zu suchen.“ Und das hat funktioniert.

Das Gärtner-Gen hat Petra von den Eltern im Schrebergarten geerbt. „Die Leidenschaft habe ich von meiner Oma, die war Bäuerin durch und durch.“ Sie erzählt aus ihrem Leben, während sie die Erde von Unkraut befreit. Fachkundig entscheidet sie, was als Mulchabdeckung bleiben darf und was in diesem rund angelegten Garten definitiv nichts verloren hat. Die Quecke etwa, die in dicker Grashalm-Optik aus der Erde lugt, muss weg. „Die breitet sich wie ein Netz im Boden aus und verdrängt alles andere.“

Petra hackt und hackt, bearbeitet gerade – zusammen mit Gartengruppenmitglied Christiane – eine ziemlich verwilderte Ecke Beet. „Ja, hier waren wir schon lange nicht mehr“, sagt sie vergnügt. Es passt zu Petra, dass sie einen Draht zu den Kids auf dem Hof hat und ihnen Geschichten vorliest, den Kleinen und den Großen. Für die Kleinen sucht sie nach einer anderen Bezeichnung, weil „die auch groß sein wollen“. Etwas später ertönt Petras Stimme tief und dunkel im Wohnzimmer der Scheune. „Und in der Höhle unter dem Baum lebte eine Klapperschlange…“

Rund 20 Bewohnerinnen und Bewohner von Hof Prädikow sitzen an einer langen Essenstafel im Freien zusammen.
Im Sommer essen die Bewohner*innen von Hof Prädikow gerne gemeinsam draußen. Dann wird eine lange Tafel aufgestellt und für jeden, der kommt, ein Stuhl herangeschoben.

Kein Bullerbü, sondern ein Ausverhandeln von Grenzen

„Das ist hier kein Bullerbü“, betont Philipp. Besucher und Medien verklären das Projekt gerne zu einer unrealistischen heilen Welt. Nicht immer herrsche Geselligkeit. Auch hier brauche es Rückzug und Ruhe. Es ist ein Ausverhandeln. Wo sind meine und deine Grenzen? Was können wir teilen? Wie können, wie wollen wir zusammenleben?

Wer das Wohn- und Arbeitsprojekt Hof Prädikow auswählt, mag Gemeinschaft und muss das Unfertige aushalten können. „Ich wünsche mir, dass der Hof in zehn Jahren immer noch Baustelle ist“, sagt Philipp. Für ihn ist das ein Zeichen von Vitalität und Aktivität. „Ich will nicht, dass wir uns irgendwann verschließen.“

Alle Fotos: Jule Frommelt

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts “Geld ist Liebe” – in der Ausgabe 2/2023 unseres Kundenmagazin “Bankspiegel” (PDF) und hier auf dem Blog.

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Kategorien Bankspiegel BS
Silke Bender

Ich mag das Schreiben, seitdem ich Jugendliche bin. Zum Glück habe ich immer so gearbeitet, dass Schreiben mit zum Beruf zählte. Ich bin seit 2021 Teil des Kommunikationsteams der GLS Bank.

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