Mit dem „Bürgerrat Demokratie“ wurde im Juni 2019 ein Modellprojekt zur Zukunft der Demokratie gestartet. Initiatoren waren Mehr Demokratie e. V. und die Schöpflin Stiftung.
Eingeladen wurden 160 zufällig ausgewählte Bundesbürger*innen. An zwei Wochenenden erstellten diese ein Gutachten zu der Frage: Soll die parlamentarische Demokratie durch direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung ergänzt werden? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble äußerten sich bereits im Vorfeld positiv zum Bürgerrat.
Falk Zientz sprach darüber mit Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie und Aufsichtsratsmitglied der GLS Treuhand.
Was begeistert dich am Bürgerrat?
Mich begeistert, was unsere Einladung bei den Menschen ausgelöst hat: Einer der ausgelosten Bürger etwa hat gleich auf Facebook gepostet: „Unfassbar!!! Bürgerrat der Demokratie … und ich bin dabei!“ Wir losen ja direkt aus den Einwohnermelderegistern per Zufallsalgorithmus aus, sodass der Bürgerrat möglichst vielfältig ist. Die Vielfalt ist schon daran ablesbar, wie unterschiedlich die Menschen anreisen: viele per Bahn, aber auch mal mit dem Porsche oder mit der Harley, einer sogar mit einem Motorsegler. Alle verlassen ihr Sofa und ihre Blase. In dem Moment, wenn sie den Veranstaltungsraum betreten und als Bürgerräte mit anderen am Runden Tisch sitzen, werden aus den Privatpersonen Bürgerinnen und Bürger. Das macht etwas mit den Menschen. Da ist gleich eine andere Haltung zu sehen.
Gewählte Abgeordnete fühlen doch auch diese Verantwortung, oder wo ist der Unterschied?
Ein Parlament funktioniert umso reibungsloser, je weniger Parteien darin vertreten sind. Jede Partei regiert am liebsten alleine. Für den Bürgerrat gilt aber genau das Gegenteil: Je größer die Vielfalt, desto reichhaltiger und qualitativ hochwertiger sind die Antworten auf die Fragen. Genau das kann den Bürgerrat auch für die Politik attraktiv machen. Ein CSU-Politiker etwa sagte mir, er würde gerne in Sachen Klimapolitik durch einen Bürgerrat herausfinden, zu welchen Einschränkungen die Menschen bereit sind, etwa hinsichtlich Landwirtschaft und Ernährung, beim Tempolimit oder im Flugverkehr. Das kann auch kein Experte sagen, sondern das kann nur eine möglichst diverse Gruppe von Bürgern gemeinsam erarbeiten.
Sind Bürgerräte nicht ein Feld für Demagogen?
Das hängt von den Spielregeln ab: Eine Einteilung in Gruppen ist wichtig. Bei uns besteht eine Gruppe aus sieben Personen und einem Moderator. Wer einmal gesprochen hat, ist erst dann wieder dran, wenn alle anderen auch gesprochen haben. Und an jedem Tag wird die Gruppe gewechselt. Es geht um Zuhören und stets um die Frage: Habe ich die Beweggründe des anderen verstanden? Bei Kontroversen holt der Moderator Feedbacks ein: Fühlst du dich richtig verstanden? Dadurch entsteht Interesse an den anderen —
eine Verschiedenheit auf Augenhöhe.
Außerdem werden unterschiedliche Experten eingeladen und zu Pro und Contra befragt. Dabei gilt der Grundsatz: Es gibt keine dummen Fragen. Das machen die Moderatoren auch vor. Und Fremdworte sind unerwünscht.
Gibt es keine Außenseiter oder Gruppenbildungen?
Doch, das kann passieren. Beispielsweise war da eine Person, die zuvor schlechte Erfahrungen mit vorgetäuschten Beteiligungsformaten in einem Unternehmen gemacht hatte. Die Person misstraute dem Verfahren und uns als Veranstaltern und verlangte darum einen eigenen Raum, um darüber zu sprechen. Normalerweise würde jeder Veranstalter sich solche Leute vom Hals halten wollen. Aber im Bürgerrat wird jeder integriert. Wichtig sind das Gespräch, das Zuhören, einander Begegnen, Anschauen, Reden und Missverständnisse klären.
Für welche Themen sind Bürgerräte am besten geeignet?
Im Grunde für alle Themen, über die sich das Parlament nicht einig wird, bei denen politische Entscheidungen hinausgezögert oder umgangen werden. Besonders gut geeignet sind Bürgerräte für Fragen, die die Selbstbestimmung betreffen, und für Themen, die sich auf unsere gemeinsame Zukunft auswirken. In Irland, wo Bürgerräte bereits erfolgreich eingeführt sind, waren das zunächst das Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe. Das Parlament hatte eingesehen: Wir kommen da nicht weiter. Dann wurden Bürger ausgelost, und die haben erstaunlich progressive Lösungen erarbeitet.
Kaum jemand hätte das von dem katholischen Irland erwartet. Ein dringliches Thema, das derzeit überall auf der Hand liegt, ist der Klimaschutz. Da ist die Bevölkerung deutlich weiter als die Parteien. Mit dem Klimapaket hat das Parlament viele Menschen enttäuscht, notwendige Schritte gescheut und damit deutlich sein Ansehen und die Demokratie geschwächt. In Frankreich dagegen richtete Emmanuel Macron einen Rat mit 150 ausgelosten Bürgern zu dem Thema ein. Auch in Großbritannien gibt es bereits einen Klimarat.
Sind Bürgerräte ein Instrument für Parlamente und Regierungen?
Ja — für die Zusammenarbeit zwischen Parlamenten, Regierungen und Bürgerschaft. Sowohl Parlamente als auch Bürger sollten einen Bürgerrat initiieren können. Aufgrund ihrer hohen Akzeptanz können Bürgerräte vermitteln, aber auch aktivieren. Mehrere der Menschen, die bei uns beteiligt waren, sagten danach, dass sie sich jetzt vorstellen können, politisch aktiv zu werden, in einer Partei, in Verbänden, im Gemeinderat oder sogar im Landtag. Ein Journalist, der unseren Bürgerrat begleitet hat, formulierte es so: „Der Bürgerrat schafft neue Krafträume für die Demokratie.“
Wie geht es jetzt weiter?
Nachdem wir am 15. November 2019 dem Bundestag die Ergebnisse vorgestellt und dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble übergeben haben, werden wir jetzt genau verfolgen, was die Politik damit macht. Für einen weiteren Bürgerrat wünschen wir uns einen klaren Auftraggeber aus dem Parlament, der Regierung oder aus einem Ministerium. Dann können Bürgerräte das Vertrauen in unsere Demokratie wiederherstellen.
Mehr Infos: buergerrat.de, Mehr Demokratie
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