Rita Schirmer-Braun, Vorständin des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz, im Gespräch. Sie ist zuständig für die Finanzen des Vereins und kämpft seit knapp zehn Jahren gegen Justiz und Politik. Am 9. April 2024 erreicht sie mit ihren Mitstreiterinnen schließlich einen historischen Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Klimaschutz wird erstmals offiziell seitens der Justiz als Menschenrecht anerkannt.
Warum haben Sie geklagt, worum ging es?
Wir Frauen der älteren Generation sind besonders betroffen von Hitzeereignissen. Das bestätigen verschiedene Studien, u.a. die WHO und das Bundesamt für Umwelt. In unserer Klage ging es darum, dass die Schweiz zu wenig tut gegen den Klimawandel, um vulnerable Gruppen wie uns zu schützen. Deshalb haben wir uns als Verein auf das Urteil aus den Niederlanden gestützt. Dort hatte eine Klimastiftung schon 2015 gegen die eigene Regierung aufgrund mangelnder Maßnahmen für effektiven Klimaschutz geklagt. Gemeinsam mit Greenpeace haben wir überlegt, wie wir dieses Konzept auch für die Schweiz adaptieren können. Daraufhin haben wir als Verein – und parallel durch vier Einzelpersonen – geklagt. Die vier Frauen hatten von medizinischer Seite attestiert bekommen, dass sie im Besonderen unter den veränderten Klimabedingungen leiden. Wir sind der Meinung, dass die bisherigen Maßnahmen der Schweiz nicht ausreichen, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten.
2023 gab es laut RKI 3.200 Hitzetode in Deutschland, 85% der Toten waren 75 Jahre alt oder älter. Das liegt daran, dass Hitze besonders gefährlich für ältere Menschen ist. Es starben mehr Frauen als Männer. Grund dafür ist, dass Frauen in den älteren Bevölkerungsgruppen stärker vertreten sind.
Welche juristischen Schritte sind Sie bis hierher gegangen?
Wir haben alle nationalen Stufen ausgeschöpft in der Schweiz: Gestartet haben wir 2016 vor dem UVEK (Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation). Diese Klage wurde zurückgewiesen. Ebenso unsere Klage im nächsten Schritt beim Bundesverwaltungsgericht, und schließlich sind wir auch beim höchsten Gericht der Schweiz, beim Bundesgericht, gescheitert. Erst nach diesen nationalen Ebenen sind wir vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gezogen.
Was waren die Begründungen der abgelehnten Klagen?
Das UVEK sagte, sie seien nicht zuständig. Unsere Forderung nach CO2-Reduktion müsse auf anderer politischer Ebene umgesetzt werden. Und im Nachhinein muss man sagen, das war ein Glück. Denn so argumentierte der Europäische Gerichtshof, dass sie nicht einmal auf unsere Argumentation eingegangen seien. Das Bundesverwaltungsgericht urteilte, wir seien nicht im Besonderen betroffen. Sie verglichen uns, die Klimaseniorinnen, mit dem Wintertourismus, der Wasserwirtschaft oder anderen Gruppen in der Schweiz, die ja auch von den Klimaveränderungen betroffen seien. Das Bundesgericht hat dann 2020 schließlich gesagt, die 2-Grad Grenze sei noch lange nicht erreicht. Es bliebe noch genügend Zeit, wenn es dann so weit sei, Handlungen zu entwickeln…
… trotz des IPCC-Reports?
Ja, diese Auslegung ist für mich bis heute sehr fragwürdig. Nach jedem Entscheid der Gerichte hielten wir im Verein eine außerordentliche Mitgliederversammlung ab, wie wir nun weiter vorgehen sollten. Und nach dem Urteil des Bundesgerichtes war dann klar: Wir wollten jetzt aufs Ganze gehen! Das hieß für uns eben: Wir ziehen vor den Europäischen Gerichtshof.
Der Europäische Gerichtshof hat Ihnen und den Klimaseniorinnen im April Recht gegeben, Glückwunsch zu diesem Erfolg!
Danke. Wir waren damals schon glücklich, als der Europäische Gerichtshof zurückmeldete, unser Fall sei überhaupt zur Verhandlung zugelassen. Dazu muss man wissen, dass 95 Prozent der Fälle aus der Schweiz vom EGMR bisher abgelehnt wurden. Die Annahme empfanden wir bereits als Erfolg. Und dann wurde die Klage auch noch als prioritär erklärt – also bevorzugt behandelt. Und dann wurde der Fall auch noch an die große Kammer verwiesen. Spätestens hier war also die Sorgfalt der 17 Richterinnen und Richter angekommen.
Was ist sonst noch besonders an diesem Urteilsspruch?
Also, erst einmal: Klimaschutz ist ein Menschenrecht, das ist ein Riesenerfolg! Wir schreiben Geschichte. Und die Schweiz muss das Pariser Abkommen umsetzen und ein CO2-Budget erstellen. Außerdem haben wir als Verein Recht bekommen. Nicht „nur“ als einzelne Individuen, die Betroffenheit nachweisen konnten. Das ist wirklich neu und war auch für unsere Anwältin Cordelia Bähr und ihr Team überraschend. Wir als Verein, als Institution, wurden als klageberechtigt akzeptiert. Für NGOs und andere Institutionen gilt: Der Zweck muss klar in den Statuten festgehalten werden.
Warum ist diese Wahrnehmung als Kollektiv juristisch so entscheidend aus Ihrer Sicht?
Wir sind im Verein alle Betroffene, doch wir sind nicht alle Opfer. Überhaupt den Weg dorthin auf sich zu nehmen, ist übermenschlich. Wir reden von Menschen, die sehr krank sind. Im Verein können Kräfte gebündelt werden. Und als Verein hier vor dem Europäischen Gerichtshof Recht zu bekommen – das ist neu und das kann eben auch anderen Vereinigungen oder Institutionen Hoffnung geben, nun ebenfalls diesen Rechtsweg zu beschreiten.
Warum waren die Misserfolge auf nationaler Ebene wichtig?
Das war und ist Voraussetzung für das Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Darum haben die Portugiesen, die ebenfalls vor dem EGMR geklagt haben, kein Recht bekommen. Sie hätten erst diesen nationalen Weg in Portugal gehen müssen. Ehrlich gesagt waren die ersten Rückweisungen der nationalen Gerichte für mich eher Ansporn als Rückschlag. Ich weiß noch, was ich sagte, als wir vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen wurden: „Kein Grund traurig zu sein, jetzt geht´s ans oberste Schweizer Gericht – zum Bundesgericht.“ Vor Jahren habe ich mal auf einer Demo in St. Gallen eine Gruppe Jugendlicher getroffen, die dort für Fridays for Future aktiv waren. Ich erinnere mich, dass sie sagten: „Ach, wie schön, dass jetzt auch die Älteren auf die Straße gehen.“ Da habe ich schon etwas irritiert geguckt – und geantwortet: „Hallo? Wir waren schon Jahre vor euch aktiv!“
Was für ein Gefühl war das?
Als wir 2023 zur Anhörung gingen, waren wir erst einmal freudig und neugierig, wie diese Heiligen Hallen arbeiten. Schon im Zug dorthin war ein Tross Medienvertreter*innen mit dabei. Und jetzt, ein Jahr später, gab es wieder eine solche Medienpräsenz. Nachdem ich das Urteil gelesen habe, muss ich sagen: Wie sorgfältig und klug die 17 Richterinnen und Richter auf dieses wichtige Thema eingegangen sind, beeindruckt mich sehr. Wir sind einfach unendlich glücklich, dass Klimaschutz als Menschenrecht anerkannt ist. Und Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
Abgesehen von Menschenrechts-Klagen: Wie arbeiten Sie sonst im Verein?
Wir sind mit den Klimaseniorinnen über die ganze Schweiz verteilt. Im Vorstand sind neun Frauen. Jede von uns hält Vorträge in der Öffentlichkeit, an Universitäten, Institutionen. Wir geben viele Interviews in unterschiedlichen Medien. Auch auf Demos war ich persönlich viel unterwegs. Wir sind sehr umtriebig, das kann man auch sehr gut an unserer Aktivitätenliste nachvollziehen. Die Klimajugend hat einen unwahrscheinlich wichtigen Beitrag zur Medienpräsenz für das Thema geleistet. Bis dahin war die Klimafrage keine Frage im öffentlichen Diskurs. Der IPCC-Bericht war nur wenigen ein Begriff. Mit der Klimajugend hat das eine ganz andere Präsenz erhalten. Auch wir als Klimaseniorinnen haben von dieser Präsenz profitiert. Dadurch wurden auch wir bei der Bevölkerung präsenter. Allerdings werden wir erst nach dem Urteilsspruch des EGMR wirklich ernst genommen.
Hat sich Ihre Arbeit nach dem Gerichtsprozess verändert?
Zu Anfang war das Interesse an meinen Vorträgen sehr begrenzt. Jetzt muss ich dafür keine Werbung mehr machen, die Leute hören mir zu. Wir reden von einem Urteil auf höchster Ebene, vom Europäischen Gerichtshof. Und dieses Urteil gilt als Leiturteil. Viele Politiker*innen in der Schweiz verwechseln den Europäischen Gerichtshof mit der Europäischen Union. Sie sagen: „Hey, wir sind nicht einmal Teil der EU und ihr klagt auf dieser Ebene – das macht doch keinen Sinn!“ Es handelt sich aber um einen Präzedenzfall für alle 47 Länder in Europa. Und jede Nation wird sich ab jetzt bewusst sein: Beachten wir das Urteil nicht, laufen wir Gefahr vom europäischen Ministerkomitee gerügt zu werden.
Was haben Banken mit Menschenrechten zu tun?
Ein Interview mit Analystin Ricarda Rösch, GLS Bank Gruppe. Warum Menschenrechte eine wichtige Rolle in ihrer täglichen Arbeit spielen, lest ihr hier.
Gab es auch negative Rückmeldungen?
Ich habe persönlich nur zwei negative Mails erhalten. Aber an unsere allgemeine Kontaktadresse hat es viele böse Nachrichten gegeben. Ich spreche nicht von inhaltlicher Kritik, sondern wirklich erschreckende Dinge. Als wir 2016 den Verein gründeten, war ich zweifelnde Reaktionen gewohnt. Als Grüne wurden wir in der Schweiz schon nicht ernst genommen – aber als Klimaseniorinnen wurden wir belächelt. Wir sollten doch lieber stricken oder unsere Zeit mit „etwas Sinnvollem“ wie Kinder hüten verbringen. All‘ so etwas kam bis zuletzt von rechtspopulistischer Seite.
Besonders hart hat es einen der Richter, Andreas Zünd, getroffen. Eben weil er als Schweizer dieses Urteil mitgetragen hat und ihm dann vorgeworfen wurde, er hätte gegen sein eigenes Land entschieden. Dabei ist das Gegenteil der Fall! Eine Gruppe Menschen, die in der Schweiz nicht ernst genommen wird, hat die Möglichkeit, eine höhere Instanz anzurufen. Das ist doch eine demokratische Leistung für die Menschen im Land. Wir hätten das Frauenstimmrecht 1971 nicht durchgesetzt, wenn der Europäische Gerichtshof nicht gewesen wäre! Diese Institution ist eine Möglichkeit bei nationalen Sackgassen eine objektive Sicht auf das eigene Land zu erhalten.
Warum sind es so häufig Frauen, die Veränderung erwirken und einfordern?
Bei Vorträgen sage ich oft, dass wir Frauen die Umsetzung des EGMR-Urteils und deren Folgen nicht mehr erleben werden. Mir ist die Zukunft der Erde und unserer Umwelt einfach sehr wichtig. Es klingt groß. Aber es ist von den Menschen her gedacht. Und im Besonderen sind es Frauen, die besonders betroffen sind oder sein werden. Wir sehen doch jetzt schon in Ländern, in denen Unwetter und Dürren zunehmen, dass Frauen häufig diejenigen sind, die sich um Wasserversorgung oder die Kinder kümmern, wenn es um Fluchtüberlegungen geht beispielsweise. Gleichzeitig sind Frauen unterrepräsentiert in Entscheidungsgremien und reden häufig nicht mit, wenn es um notwendige Anpassungen geht. Egal ob politisch oder kommunal. Ich selbst habe kein parlamentarisches Amt. Als alleinerziehende Mutter hatte ich weder die Zeit noch die Energie zusätzlich politisch aktiv zu werden. Und so geht es vielen!
Vielleicht hängt es mit den Kindern zusammen. Dass Menschen, die viel Zeit und Liebe in die Kindererziehung gesteckt haben, ein größeres Bewusstsein dafür haben, wie ihre Kinder und deren Kinder einmal aufwachsen werden. Ich bin gerne in der Natur, ich liebe die Berge. Und ich kann nur sagen, wer mit offenen Augen durch die Welt geht, der sieht die Veränderung. Es gibt auf meinen Wanderstrecken bereits jetzt Wege, die nicht mehr zu betreten sind, weil sie aufgrund der Schmelze zu gefährlich geworden sind. Manchmal sage ich böse: Klar, wer nur im klimatisierten Auto sitzt, kriegt nicht mit, dass sich unsere Umgebung verändert. Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für unsere Existenz, für die Artenvielfalt und für die Ernährungssicherheit. Weitsicht ist dringend gefragt!
Wie reagieren Sie darauf, wenn Menschen diese Effekte herunterspielen?
Früher habe ich schnell emotional reagiert, manchmal sogar zynisch. Aber heute argumentiere ich ruhiger. Erst einmal versuche ich mich in die Perspektive meines Gegenübers hineinzuversetzen. Also zum Beispiel, wenn jemand die Haltung vertritt, dass der Klimawandel etwas dramatisch sei und es doch alles nicht so schlimm wäre. Dann sage ich: Für den Moment und für die Schweiz mag das noch stimmen. Wobei wir auch hier, wie gesagt, die Auswirkungen bereits spüren. Kurzfristig jedoch müssen wir noch kein Wasser suchen. Aber wir in der Schweiz sind das Wasserschloss Europas. Das heißt trotzdem nicht, dass wir von den Auswirkungen ausgenommen werden. Schauen wir uns die Situation im Jahr 2022 an. Da hatte der Rhein kaum Wasser. Das betrifft uns und unsere Landwirtschaft also heute schon direkt. Über eine solche Argumentation nähere ich mich dann an und komme mit Menschen ins Gespräch, die eine andere Haltung vertreten. Ruhig und sachlich. Wie gesagt, das war nicht immer so.
Wie geht es jetzt weiter?
Klar ist: Wir bleiben dran, wir bleiben aktiv. Wir verfolgen die nächsten Schritte der Politik und sind gespannt, wie der Plan der Umsetzung aussehen wird. Ich habe das Gefühl, dass das Urteil auf staatlicher Seite noch gar nicht richtig inhaltlich analysiert wurde. Auch weil der Medienrummel in so kurzer Zeit so groß war. Persönlich bin ich gerade erst einmal froh, etwas Luft zu kriegen. Mir geht es sehr gut, aber ich bin auch geschafft, muss ich sagen. Nach diesem Gespräch mit Ihnen, mache ich erst einmal eine Pause.
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