Richard Schmitz ist verschwommen im Vordergrund zu sehen, vertieft in einem Gespräch. Der Fokus liegt auf die Wand hinter ihm, voller eingerahmter bunter Illustrationen von Wohngebäuden.

Vielfalt in der Wohnstruktur

Schwerpunktthema | Im Wir und Jetzt

Die Berliner Genossenschaft Am Ostseeplatz sichert seit gut 25 Jahren Wohnraum für Vielfalt. Dazu gestaltet sie nicht nur die Mieten bezahlbar, sondern entwickelt darüber hinaus unkonventionelle Wohnkonzepte. Bei allem steht das Wir im Fokus.

Autorin: Hannah El-Hitami

Im Wir und Jetzt

Auch in Zeiten wachsender Herausforderungen können wir Einiges bewirken – wenn wir uns verbinden. Unser aktueller Schwerpunkt zeigt mit inspirierenden Beispielen und Ideen, wie wir gemeinsam heute für morgen aktiv werden können. Unsere Chance liegt im Wir und Jetzt.

Was können moderne Städte von der Berliner Hausbesetzerszene der 1980er Jahre lernen? Gemeinschaftlich wohnen, glaubt die Genossenschaft am Ostseeplatz. Ihre Projekte greifen immer wieder ein Konzept auf, das Vorstand Richard Schmitz als Student selbst erlebt hat: „Im besetzten Haus hat man sich eine Wohnung geholt und selbst saniert. Zusätzlich gab es eine Wohnküche als Gemeinschaftsbereich, wo man sich getroffen, gefrühstückt, gestritten und gelacht hat.“ Heute nutzt die Genossenschaft die Idee des Gemeinschaftswohnens immer wieder, wenn sie Häuser kauft oder baut – und setzt damit der Isolation und dem Mietenwahnsinn in der Großstadt etwas entgegen.

Angefangen hat die Genossenschaft im Jahr 2000 mit dem „Retten“ von Häusern. Retten bedeutet, sie einem Immobilienmarkt zu entziehen, der von Spekulation, Mietenwucher und strategischer Vernachlässigung geprägt ist. „Da geht es um Menschen, die in Not sind, die sich engagieren und ihren Wohnraum sichern wollen“, sagt Vorstand Richard Schmitz im Genossenschaftsbüro in einem jener geretteten Bauten in Neukölln. In Milieuschutzgebieten wie diesem nutzte die Genossenschaft das Vorkaufsrecht, um profitorientierten Investor*innen Gebäude wegzukaufen. Das Vorkaufsrecht besagt, dass Bezirke Gebäude, die zum Verkauf stehen, vorrangig erwerben oder zum Beispiel eine Genossenschaft mit dem Kauf beauftragen dürfen.

Schmitz ist 57 Jahre alt, Volkswirt und strahlt entspannten Pragmatismus aus. „Fanden wir cool, haben wir umgesetzt“, sagt er, wenn er von Projekten erzählt – und plötzlich scheint alles machbar. Schmitz ist seit der ersten Hausrettung vor 25 Jahren dabei. Damals taten sich am namensgebenden Ostseeplatz im Berliner Prenzlauer Berg die Mieter*innen eines Gebäudes zusammen, das die städtische Wohnungsbaugesellschaft zum Verkauf anbot. Die Bewohner*innen wollten langfristig zu fairen Preisen in ihren Wohnungen bleiben. Darum beschlossen sie ihr Zuhause gemeinsam zu kaufen. Schmitz unterstützte sie damals als Berater, bald wurde er selbst Mitglied der neu gegründeten Genossenschaft am Ostseeplatz.

Heute ist „der Ostseeplatz“ vor allem dafür bekannt, unkonventielle Wohnkonzepte voranzutreiben. Das zweite Gebäude, das die Genossenschaft kaufte, war 2004 die Villa Felix, ein besetztes Haus in Berlin-Friedrichshain. Dort schuf sie gemeinsam mit dem Besetzerkollektiv große WGs, eine gemeinsame Dachterrasse, einen Gemeinschaftsraum für das wöchentliche Plenum. Auch im Kreuzberger Waldekiez brachte die Genossenschaft eine Community von Hausbesetzer*innen in ein gerettetes Gebäude und setzte dort etwas um, das sie damals „Wohnen über den Flur“ nannte: Mieter*innen teilten sich sich Küchen oder Wohnzimmer mit ihren Nachbar*innen gegenüber oder obendrüber. „Damals haben wir alles geübt, was wir heute im Neubau machen“, sagt Schmitz.

Seitdem hat „der Ostseeplatz“ über 1000 Mitglieder gewonnen und mehr als zwanzig Gebäude in Berlin gekauft, viele mithilfe der GLS Bank. „Wir haben von Anfang an unternehmerisch gearbeitet“, sagt Schmitz. Der Genossenschaft ging es nie nur darum, einzelne Objekte für die eigenen Mitglieder zu sichern, sondern die Hauptstadt mit möglichst viel genossenschaftlichem Wohnraum zu versorgen. Oft bedeutet das, sich mit bürokratischen und finanziellen Hürden herumzuschlagen. Doch Schmitz und seine Kolleg*innen bleiben dran. „Wir sind Fans von Berlin und wir sind Fans der Vielfalt. Wir glauben, dass wir diese Vielfalt durch unsere Genossenschaft sichern können.“ Dazu gehöre auch, Gewerbeflächen an soziale Projekte zu vermieten, die den Menschen im Kiez zugute kommen und auf dem freien Wohnungsmarkt schlechte Karten hätten.

Richard Schmitz (links) und Till Degenhardt gehören zum Vorstand der Genossenschaft am Ostseeplatz. Das Kollektiv sichert und schafft Wohnraum in Berlin, der Platz für Vielfalt bieten soll.

Denn inzwischen baut die Genossenschaft auch selbst. Mit Finanzierung der GLS Bank plant sie derzeit ein Gemeinschaftswohnprojekt im Stadtteil Treptow-Köpenick. Auch ein Neubau in Siemensstadt sieht teilweise Wohnungs-Cluster vor. Das bedeutet, dass sich die Bewohner*innen einer Etage großzügige Wohnzimmer teilen. Von diesem Gemeinschaftsbereich führen Türen in die einzelnen Wohnungen, die mit eigenen Bädern, Balkons und Küchenanschlüssen ausgestattet sind. „Ich habe das Gefühl, dass die Gesellschaft das wirklich braucht“, sagt Vorstandsmitglied Till Degenhardt, 50, Architekt Er beobachtet, dass immer mehr Menschen sich an die Genossenschaft wenden und nach gemeinschaftlichen Wohnungen fragen.

Aus seiner Sicht als Familienvater verständlich: „Ich frage mich, ob das die richtige Entwicklung war, dass man als Kleinfamilie alleine in seinen vier Wänden lebt. Gerade, wenn keine Verwandtschaft in der Nähe lebt, fehlen oft die sozialen Strukturen.“ Zwar können auch in klassischen Mietshäusern aktive Nachbarschaften entstehen. Doch wenn ohnehin neu gebaut wird, lohne es sich Räume zu schaffen, „wo man dazu angehalten ist, sich miteinander zu organisieren, sich kennenzulernen, näher zusammenzurücken.“ Degenhardt glaubt, dass der Raum für Vorurteile schrumpft, wenn der Raum für Begegnung wächst. „Schafft man es, das ‚Wir‘ in der Wohnstruktur vielfältiger zu machen, hat es das ‚die Anderen‘ etwas schwerer.“

Mehr zur Genossenschaft Ostseeplatz erfahren:

Mehr über die Finanzierung von Anteilen für Wohngenossenschaften erfahren:

Fotos: Natalia Bronny

Weitere Beiträge

Eine bunte Illustration einer belebten Nachbarschaft. Ein Mensch auf einem Lastenfahrrad, zwei auf einer Parkbank.

Stiftungsnetzwerk Ruhr: GLS Treuhand pflegt gute Nachbarschaft

Die GLS Treuhand verbündet sich seit Jahren mit Stiftungen aus dem Ruhrgebiet. Ihre Erfahrung zeigt: Trotz großer Unterschiede lässt sich gemeinsam Wirkung entfalten.

Auf dem Bild ist ein junger Mann mit Mikro zu sehen; er sitzt im Halbdunkel im Publikum, alle schauen in eine Richtung zu einer Bühne oder Person außerhalb des Bildes

Mitgliederveranstaltung: Das Wir in Wirkung

Die GLS Bank setzt auf tragfähige Beziehungen, um Zukunft zu gestalten. Dazu bündelt sie die Kräfte vieler Mitglieder. Um die Verbundenheit im Miteinander zu pflegen geht die GLS Bank mit ihren Mitgliedern in den Austausch.

GLS Mitglieder: GLS Anteile ermöglichen neue nachhaltige Kredite

GLS Anteile: Mitmachen im Wir und Jetzt

Deine GLS Anteile sind die Basis für unsere Kredite für nachhaltige Projekte und Unternehmen. Das Besondere: Jeder Anteil ermöglicht ein Vielfaches seines Werts an Krediten.

Diesen Artikel teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Weitere aktuelle Themen