Franziska Köppe besuchte für die GLS Blog-Kooperative die Gemeinschaft Schloss Tempelhof
„Ich bin heute definitiv jemand anderes als noch vor fünf Jahren, bevor ich an den Tempelhof kam. Ich habe das Gefühl, ich bin viel vollständiger. Ich bin immer noch auf dem Weg. Ich bin jedoch klarer in Bezug auf meine Stärken und meine Schwächen, meine sozialen Fähigkeiten und kenne mich selbst viel genauer durch den Spiegel der Gemeinschaft. Dadurch bin ich glücklicher. Näher an mir und in Verbindung mit mir selbst.“
Dies war die Antwort von Martina Jacobson, Genossin und Aufsichtsrätin am Schloss Tempelhof, auf die Frage, wer sie ist. Im Februar hatte ich die Gelegenheit, die Gemeinschaft zu besuchen und mit ihr und anderen Menschen im Dorf zu sprechen. Seither ist viel passiert und ein Zusammenwirken für „Lebens- & Arbeitswelten mit Zukunft“ entstand.
Im Rahmen der GLS Blog-Kooperative bin ich nun eingeladen, die Genossenschaft zu porträtieren. In der Reflexion, was mich am Tempelhof fasziniert, interessiert mich vor allem die Frage: Wie verbinden hier die Menschen Leben und Arbeiten zu einem sinnstiftenden Ganzen? Was verändert sich für sie am Tempelhof, werden sie Teil der Solidargemeinschaft? Woher nehmen sie ihren Mut zum Wandel? Lass mich Dich mitnehmen auf meine Reise des Verstehens:
Schloss Tempelhof – eine solidarische Gemeinschaft
Im fränkisch geprägten Nord-Osten Baden-Württembergs liegt die Gemeinde Kreßberg. Dort wo sich A6 von Heilbronn nach Nürnberg und A7 von Würzburg nach Ulm kreuzen. Inmitten der ländlich-hügeligen Landschaft liegt das Dorf Tempelhof. 31 ha Boden – bestehend aus 4 ha Baugrund mit zahlreichen Gebäuden und 27 ha Agrarland – bieten Raum für gemeinschaftliches Wohnen und vielfältige Möglichkeiten für gewerbliche Betriebe und kreative Projekte.
Im Dorf leben heute 105 Erwachsene und 50 Kinder. Insgesamt bietet Schloss Tempelhof Raum zur Entfaltung für zirka 200 Personen. Auf dem Gelände gibt es Wohnhäuser, eine freie Schule, Landwirtschaftsgebäude, eine Großküche mit Gemeinschaftskantine, ein Seminarhaus, ein Gästehaus, Werkstätten und Gewerbeflächen, eine Mehrzweckhalle mit Bühne, das namensgebende Schloss und ganz viel Natur.
Gemeinschaftlich in Besitz und verantwortet
Die Bewirtschaftung des Tempelhofs dient der Selbstversorgung der Gemeinschaft und Gäste mit biologischen Lebensmitteln sowie der Wiederherstellung und Erhaltung natürlicher Kreisläufe. Rund 20 Familien von außerhalb und einige Gaststätten beziehen zudem Gemüsekisten vom Schloss Tempelhof.
Heute arbeiten 20 Frauen und Männer in der Gärtnerei, im Ackerbau, der Tierhaltung, Imkerei, Bäckerei und in der Kantinenküche. Sie verwirklichen eine solidarische Landwirtschaft, die alle gesund und umfassend ernährt. Weitere 30 Arbeitsplätze entstanden im Seminar- und Gästehaus, dem Energie- und Baubereich, der Verwaltung und in der freien Schule.
Privatbesitz an Grund und Boden gibt es nicht. Um das Objekt jeglicher, künftiger Bodenspekulation zu entziehen, erwarb die gemeinnützige grund-stiftung am Schloss Tempelhof die Liegenschaft. Per Erbpachtvertrag mit 99 Jahren Laufzeit vergab sie sie an die Schloss Tempelhof Genossenschaft. Die Genossenschaft ist die demokratische Rechtsform für die Verwaltung der solidarischen Betriebe. Jede/r Genosse/in hat unabhängig von der Höhe seiner Einlage das gleiche Stimmrecht.
Wie ernst die Tempelhofer diese Grundprinzipien der Demokratie nehmen, wird überall in der Gemeinschaft im Kleinen wie im Großen sichtbar. Dabei geht es nicht nur um Rechte und Pflichten des Einzelnen. Es geht um soziale wie um kollektive Entwicklungsprozesse. Keiner wird damit allein gelassen. Mitbestimmung wird gefordert und gefördert zugleich.
Kluge Entscheidungsprozesse durch ein hohes Maß an Partizipation
In der Solidargemeinschaft sind alle Beteiligten sowohl auf der Prozess- und Strukturebene als auch der strategischen Ebene eingebunden und wirken an der Umsetzung der Beschlüsse auf der Alltagsebene mit. Dafür kommen die Genossen alle 6 Wochen zu einem Dorfplenum zusammen.
Im 6-stufigen Konsens-Verfahren werden im Rahmen des Dorfplenums vor allem Entscheidungen getroffen, die die gesamte Gemeinschaft betreffen. Zum Beispiel: Veränderungen der Organisationsstruktur, die Aufnahme neuer Genossen in die Gemeinschaft, Bauvorhaben am Tempelhof, Durchführen von Großveranstaltungen oder auch Projekte, die die Solidargemeinschaft voranbringen können.
Wenn Du, liebe Leserin, lieber Leser jetzt zurückschreckst und denkst: „Du liebe Güte, dann dauert ja alles ewig!“, kann ich bezeugen, dass dem nicht so ist. Ich war an einem der regelmäßigen Bewohnerplenen dabei. Diese finden alle 14 Tage statt und dienen den Beteiligten dazu, die Dorfplenen vorzubereiten. Innerhalb von 2 Stunden beobachtete ich, wie eine Vielzahl kleiner und großer Entscheidungen, die die gesamte Dorfgemeinschaft betreffen, beschlossen wurden:
Dieses hohe Maß an Effizienz setzt gut ausgebildete Handlungskompetenzen voraus, sowohl hinsichtlich ihrer Sozial-, Persönlichkeits-, Methoden- als auch ihrer Fachkompetenz. Die Bewohner sind also gefordert, auf individueller wie kollektiver Ebene. Um dies zu ermöglichen, braucht es einen geschützten Raum für Wandelmut. Die Zukunftswerkstatt Tempelhof versteht sich als Pionier für viele anstehende gesellschaftliche Prozesse der Neuorientierung und gibt den Menschen den dafür notwendigen Raum.
In meiner Multimedia-Reportage „Schloss Tempelhof – In Gemeinschaft leben und arbeiten“ gehe ich auf die Entscheidungsprozesse und den sozialen Raum für Wandelmut in der Tempelhofer Praxis näher ein und stelle zudem eine Auswahl „Architekten des Wandels“ vor. Hier würde es den Rahmen sprengen. Guckst Du: „Partizipation und Wandelmut am Schloss Tempelhof“.
Solidargemeinschaft – eine Schule des Lebens und Arbeitens
„Wandlungen brauchen Orte für Studium, Symposien, Workshops, künstlerische Experimente, Rückzug und meditative Stille. Unser Traum ist ein ganzheitliches achtsames Miteinander, individuell und gemeinsam – in Aktivität und Stille, im Zusammenleben, Arbeiten und Feiern.“
Agnes Schuster, Gründerin und Genossin der Gemeinschaft Tempelhof
Verantwortung für uns und in einer Gemeinschaft zu übernehmen, ist erlernbar. Es erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und mit den eigenen Wertvorstellungen. Es ist die stete Reflexion der persönlichen Haltung dem Leben, den Dingen und der Welt gegenüber.
Das ist nicht immer leicht. Dafür braucht es in Gemeinschaft auch wohlwollendes Miteinander. Vor allem jedoch braucht es Übung. Übung im Alltag:
„Hier (am Tempelhof) kann ich alles, was ich je im Leben gelernt habe, einbringen. Was ich gut kann, ist Strukturen zu entwickeln und aufzubauen. Das war in der Anfangsphase am Tempelhof mit das Wichtigste. Ich war immer dabei, wenn es um die Weiterentwicklung unserer Organisationsstruktur ging. Momentan habe ich keine verantwortliche Funktion. Das ist so bewusst gewählt. Zum ersten Mal im Leben geht es darum, was will ich eigentlich? Ich habe mich immer in den Dienst einer Aufgabe gestellt. Schon nur Aufgaben, die mir Sinn machen. Aber jetzt frage ich zu allererst, was möchte ich? Und zwar nicht in einem egoistischen Sinne, sondern – ich kann gar nicht anders – in Gemeinschaft gedacht. Was ist das, was mir ein Anliegen ist und was auch der Gemeinschaft dient? Und ich will das nicht mehr vom Kopf her machen, sondern einfach warten, bis es sich aus dem Nichtwissen heraus zeigt.“
Dr. Marie Luise Stiefel, Genossin der Gemeinschaft Tempelhof
In unserer Gesellschaft werden individuelle Bedürfnisse und die uns gegebene Neugier, Dinge zu entdecken, von Kindesbeinen an aberzogen. Schulische, universitäre und auch berufliche Bildung geht zumeist einher, sich in die Rollen und Strukturen einzufügen, (Fach)Wissen aufzubauen und dann im System „zu funktionieren“. In Lebens- & Arbeitswelten mit Zukunft wird dieser Zwang zur Konformität aufgehoben. Der sinnstiftenden Verbindung von Mensch und System (Sinnkopplung) wird Raum gegeben.
Um im Sinn koppeln und mit Sinn führen zu können, setzt dies den klugen Einsatz unserer Intuition voraus. Wir müssen (wieder) lernen, unserm Bauch und unserem Herz zu vertrauen. Wir brauchen das Experimentieren, das Ausprobieren, das Erproben, das Verwerfen und Neubeginnen. Ich nenne es Anfängergeist. Um ihn zu stärken, entwickelte ich ein Vorgehen und bename es als Realexperimente:
Meine Erkenntnis: In der Selbstbestimmtheit und damit Selbstwirksamkeit des Einzelnen liegt der Schlüssel für Selbststeuerung einer Organisation. Es ist eine Wohltat, dies am Tempelhof zu erleben. Es macht Mut.
Lernen nach Innen und Außen offen
„Wir sind hier keine Insel, sondern im stetigen Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Als Gastgeberin liegt mir am Herzen, den Einzelnen zu ermutigen, seinen Herzensweg zu gehen. Dafür braucht es ein gesundes Spannungsfeld aus Freiheit und Verbundenheit in der Gemeinschaft. Wir haben hier einen Raum geschaffen, der Menschen inspiriert und begeistert, sich zu entfalten. Also neue Wege zu gehen, wo etwas anders werden soll, wo Unzufriedenheit da ist, wo Sinnlosigkeit da ist. Und unsere Erkenntnisse vor allen Dingen mit anderen zu teilen.”
Agnes Schuster, Gründerin und Genossin der Gemeinschaft Tempelhof
Weiterbildungen am Tempelhof werden durch den Rahmen zu einer besonderen Qualität des Lernens. Es macht einen Unterschied, wenn ich mich im Workshop beispielsweise mit solidarischer Landwirtschaft und Permakultur beschäftige und später dann in der Kantine von Menschen umgeben bin, die dies mit Haut und Haar leben, es ausprobieren, es schlicht tun.
Einladung zum eigenen Erleben und Ausblick
In so vielem, was meinen Besuch am Schloss Tempelhof ausmachte, steckt Anfängergeist. Hier fand ich Gleichgesinnte für den kontroversen und konstruktiven Dialog wie auch das mit vereinten Kräften Tun. Ich freue mich, was in der Kooperation von Tempelhof mit „EnjoyWork“ entstehen und wachsen kann.
So waren die Tempelhofer unter anderem Teil des Forschungsprojektes „Mehr Sinn in der Arbeit durch demokratische Personalprozesse“ von Tim Weinert / Universität Leuphana. Wir sprachen darüber (siehe da). Zudem wird Tim seine Forschungsergebnisse und Erkenntnisse beim EnjoyWorkCamp zur Diskussion stellen. Vertreter der von ihm erforschten Unternehmen — so auch Michael Selig vom Schloss Tempelhof — werden ebenfalls vor Ort sein.
Wer mit den „All Leader“-Gestaltern vom Tempelhof ins Gespräch zu Entscheidungsprozessen und neuen Rollen für Lebens- & Arbeitswelten mit Zukunft kommen will, geht am besten gemeinsam mit Gebhard Borck und Joan Hinterauer auf „Perspektivreise Mittelstand“ oder besucht die „All-Leader Werkstatt für Neue Arbeitskultur“ am Tempelhof.
Ich kann es Dir, geneigtem Leser, nur empfehlen, Dir vor Ort selbst ein Bild zu machen. Tempelhof muss man erleben, um es wirklich zu begreifen.
Sei wandelmutig und bleib neugierig,
Franziska
Franziska Köppe ist Gründerin und Moderatorin von EnjoyWork, ein dem Gemeinwohl dienenden Unternehmen für Lebens- und Arbeitswelten mit Zukunft. Sie begleitet Menschen, Firmen und Events dabei, in der Welt gesehen und verstanden zu werden. Ihre zentrale Frage lautet: Wie begeistere ich Menschen so für ein Projekt oder eine Vision, dass sie ihre Ideen, ihre Zeit, ihr Engagement gern für die gemeinsame Sache einsetzen? So unterstützt sie Menschen aller Branchen und Disziplinen in einer wandelmutigen Gestaltung ihrer Firmen-DNA.
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