Im Projekt K20 haben Menschen einen fast utopischen Ort geschaffen. Sie zeigen, wenn Menschen aus tiefstem Herzen solidarisch miteinander sind, verliert Geld seine Bedeutung.
Was für ein sagenhafter Name: Salzderhelden. Doch so wenig der Ortsname tatsächlich aus dem Märchen stammt – er leitet sich ganz profan von den Salzstöcken ab, die der Region im Mittelalter Wohlstand gebracht haben -, so wenig zauberhaft ist die ökonomische Situation hier im niedersächsischen Harzvorland. Das Dorf, etwa 20 Zugminuten von Göttingen entfernt, leidet unter den typischen Problemen kleiner Gemeinden in strukturschwachen Gebieten. Die Jungen ziehen weg, Einzelhandel und Handwerk verschwinden, Leerstände und verfallende Fassaden mehren sich.
K20: Leben jenseits von Bürgerlichkeit
Seit einem Jahr aber verändert sich in Salzderhelden etwas, und das begann an einem Frühjahrstag 2020 auf einem Deich am Leinepolder. Dort stand Eva Brunnemann, um ihrem Freund und Weggefährten Tobi Rosswog ein zum Verkauf stehendes, baufälliges Fachwerkhaus zu zeigen. Wäre das nicht genau der richtige Platz für ein Kollektiv zum Aufbau solidarischer Strukturen? Wo Geben und Nehmen voneinander entkoppelt sind und alle Menschen willkommen sind, egal, was sie beitragen können?
Brunnemann, Sozialpädagogin und in der Lokalpolitik für die Linken aktiv, trennt von Rosswog, 31, eine Generation. Aber beide verbindet die Überzeugung, dass die Gesellschaft eine Transformation braucht, weg von bürgerlichen Kategorien wie Arbeit, Eigentum und Kapital hin zu einer Solidarökonomie, die frei ist von hierarchischem Denken und persönlicher Vorteilsnahme. Die Idee eines utopischen Ortes, von K20, war geboren.
Utopischer Freiraum
Mithilfe der Stiftung Freiräume, die bundesweit freie Arbeits-, Wohn- und Lebensprojekte operativ und finanziell unterstützt, wurde das denkmalgeschützte Haus in der Knickstraße 20 gekauft, dessen Adresse dem Projekt den Namen gab. Über Netzwerke und soziale Medien wurde der utopische Freiraum bekannt gemacht und Leute für die dringenden Renovierungs- und Umbauarbeiten gesucht.
„Es war überwältigend zu sehen, wie viele Menschen das Projekt gemeinsam gestalten wollten und sich mit ihren Talenten einbrachten“, erinnert sich Tobi Rosswog. 2013 hat er sein Studium abgebrochen und sein ganzes Geld verschenkt, um mehrere Jahre geldfrei zu leben. Dieses „Lebensexperiment“, wie er es bezeichnet, thematisierte er unter anderem in seinem Buch „After Work“, das für einige mediale Aufmerksamkeit sorgte.
Utopie mit wenigen Mitteln
Mittlerweile wohnen und arbeiten im K20 ein Dutzend Menschen zwischen 20 und 30 Jahren. Sie leben wie in einer Symbiose, eigenen Besitz gibt es in der Regel nicht, es wird fast alles geteilt. „Ich sage lieber: Diese Schuhe, diese Lampe oder dieses Fahrrad habe ich mitgebracht, aber es gehört der K20“, erzählt Valentin Krenkler, der als gelernter Tischler beim Ausbau des Hauses viel anschiebt.
Für ihn war die Distanzierung von persönlichem Eigentum anfangs nicht immer einfach. „Ich dachte, ich stelle hier alles ganz cool zur Verfügung, was mir gehört, und musste dann doch feststellen, dass mir etwa mein Fahrrad sehr wichtig war.“ Gut sei es für ihn gewesen, diese Gefühle nicht zu leugnen. Für ihn sei das ein wichtiger Lernprozess: „Wir können nicht alles immer gleich so schaffen, wie es unsere Utopie verlangt, aber wir können darauf hinarbeiten.“
Weg vom Geld
Ziel des K20 ist es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen geldfrei politisch aktiv sein können. Dabei ist allen klar, dass die Rahmenbedingungen dafür nicht geschaffen sind. „Am Ende kommen diese Projekte nicht ohne Geld aus, sie befinden sich ja immer noch auf Halbinseln, die auf eine Verbindung in das alte System angewiesen sind“, sagt Rosswog. Steuern und Abgaben müssten genauso bezahlt werden wie die laufenden Kosten für Wasser und Energie. Jeder, der das K20 nutzt, gibt deshalb, so viel er kann, in die gemeinsame Kasse.
Gib so viel du magst
Aber wo kommt dieses Geld her? Lotte Herzberg engagiert sich seit einem Jahr im K20 und zahlt im Monat einen solidarischen Beitrag, der sich danach richtet, was sie zahlen kann. Sie hat ein Studium in nachhaltiger Architektur abgeschlossen, arbeitete eine Zeit lang in einem Architekturbüro und hat etwas Geld gespart. „Wir haben hier ja alle kaum Lebenshaltungskosten, deshalb reichen die Einnahmen für eine lange Zeit.“
Einnahmen generieren einige der K20-Menschen mit ihrer Arbeit für das Medienkollektiv Wandelwerkstatt, das Grafikaufträge für Logos oder Buchprojekte aus dem politischen Aktivismuskreis erhält. Rosswog erzielt Einnahmen mit seinen Vorträgen, die er ins Kollektiv steckt. „In diesem Sinne kann ich mir persönlich auch vorstellen, irgendwann wieder meine Ausbildung zu nutzen, um etwa Bauanträge zu schreiben, und dafür eine Aufwandsentschädigung zu bekommen, wenn sie wirklich sinnvollen Projekten zugutekommen“, erzählt Herzberg. „Wir haben hier alles, was wir fürs Leben brauchen, um Geld sorgt sich hier dank der gelebten Solidarität keiner, glaube ich.“
Jeder trägt Verantwortung
Wenn viele Menschen zusammen leben, dann trägt jeder eine Verantwortung. An der großen Infotafel im Gemeinschaftsraum ist ablesbar, wie das funktioniert. Wer übernimmt heute die Küchenarbeit, wer kommt mit zum Supermarkt, um Lebensmittel zu retten, wer beteiligt sich am Bau eines Fahrradanhängers? Niemand ist gezwungen, eine Aufgabe zu übernehmen, und dennoch kommt es selten dazu, dass mal etwas liegen bleibt. „Geschirr einräumen etwa, da gibt es schon Verbesserungspotenzial“, sag Herzberg und lacht „Die Grundidee ist, dass es ein offenes Haus ist, es übt also niemand das Hausrecht aus.“ Tauschmittelfreiheit ist das Gebot, „Bislang war es zum Glück so, dass die Menschen im K20 vor allem durch die Begeisterung der hier Lebenden angezogen wurden und für jeden klar ist, dass das Projekt nur funktioniert, wenn die Verantwortung nicht auf wenigen Schultern lastet“, sagt sie.
Kiste statt Kasse
„Tobi und ich haben Erfahrungswerte, wann solche Projekte auch an Grenzen stoßen“, sagt Brunnemann. Ein wichtiger Punkt seien klar definierte Rückzugsorte. Deshalb haben sie über kollektiv organisierte Kredite weitere leer stehende Häuser im Dorf gekauft, die fast ausschließlich zum Wohnen genutzt werden. Brunnemann selbst hat dort ein Zimmer und ihre Privatsphäre. „Wir organisieren unseren Alltag kollektiv, bleiben aber individuell in der konkreten Ausgestaltung.“
Junge Menschen, die in alternative Wohngemeinschaften in ein 2.000-Seelen-Dorf ziehen und Gebäude aufkaufen – gab es da keine Vorbehalte bei den Alteingesessenen? „Nein, im Gegenteil, wir fühlen uns total willkommen“, sagt Rosswog. Das kann man am Bahnhof erleben, der durch die Menschen vom K20 ein neuer Begegnungsort für das Dorf wurde. Die Gemeinde stellte den leer stehenden Kiosk pachtfrei zur Verfügung, mit der Auflage, im Bahnhof für Sauberkeit zu sorgen und kulturelle Angebote zu etablieren.
Inzwischen finden dort regelmäßige Sonntagskonzerte statt, in der Woche werden im solidarischen Mitmachkiosk „Die Molli“ frühmorgens vegane Frühstücksbrote und Müslis angeboten und statt einer Preistafel steht auf der Theke eine kleine Kiste, in die jeder das legt, was er zahlen kann. Das war anfangs für die Pendler*innen und Schulkinder ziemlich ungewohnt, heute ist das hier: Normalität.
[grey_box]Zum K20 in Salzderhelden gehören mittlerweile zwei weitere Häuser: ein Projekthaus mit Co-Working-Spaces, Solicafé und einem Bandproberaum sowie das Blaue Haus, das vor allem Wohnraum bietet. Wer in den Häusern in Salzderhelden leben möchte, Projekte mitgestalten und politisch aktiv sein will, gibt, was er kann. Aktivist und Mitinitiator Tobi Rosswog und die GLS Bank verbindet eine jahrelange Zusammenarbeit: „Die Bank hat Vertrauen in unsere Aktivitäten und unterstützt sie von Herzen. Alleine schon mit der Zusage, unsere Vorhaben bei Bedarf auch mit zu finanzieren. Das lässt frei aufspielen und schafft Möglichkeitsfenster, die stärken.“[/grey_box]
Hier könnt Ihr was zu dem anderen, fast utopischen Ort lesen.
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Fotos: Severin Wohlleben
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