Große Tech-Konzerne sammeln Daten und verkaufen sie gewinnbringend. Die Genossenschaft polypoly will zusammen mit ihren Mitgliedern die Daten zurückholen.
Da sind fremde, halb nackte Männer in meinem Newsfeed bei Facebook. Zwischen den politischen Meinungen ehemaliger Kommilitonen, Sinnspruchkacheln und den Quarantänetagebüchern loser Bekanntschaften posiert da plötzlich ein Typ im Feinripp am Pool. Für mich? Das muss wohl ein Versehen sein. Was glaubt Facebook denn, was für ein Mensch ich bin? Ein Mann? Oder eine Höschenjägerin? Überall im Internet hinterlasse ich Datenspuren.
Manchmal ist mir das bewusst — zum Beispiel, wenn ich bestimmte Apps benutze, um Fahrkarten zu buchen oder mit Menschen zu chatten. Aber manchmal bemerke ich kaum, dass ich gerade Daten freigebe, wenn ich zum Beispiel am Tag Dutzende von Cookies akzeptiere. Ich weiß zwar: Kostet der Service nichts, bin ich das Produkt. Aber so wirklich bekümmert hat mich das bislang nicht. Angesichts der fremden Männerunterhosen frage ich mich aber ernsthaft: Welches Bild haben sich die Digitalkonzerne von mir gemacht? Welche Daten sind für sie interessant? Wo werden sie hinverkauft? Und kann ich das ändern?
Das herauszufinden, ist normalerweise ein sehr aufwendiges Unterfangen. Der österreichische Jurist Max Schrems hatte vor einigen Jahren bei Facebook nach den über ihn gespeicherten Informationen gefragt und nach langem Kampf 1.200 Seiten unübersichtlicher Datensätze zugeschickt bekommen. Schrems hat Facebook bis vor den Europäischen Gerichtshof gezogen, um zu verhindern, dass seine Daten an andere Apps weitergereicht werden. In der Verhandlung behauptete Mark Zuckerberg, dass ihm das Datensammeln und -verkaufen sehr leid tue. Außerdem wisse er allerdings selbst nicht, wie das Tracking so ganz genau funktioniere. Wie soll ich dann im Datendunst jemals mit meinen Daten souverän umgehen?
Dabei möchte polypoly helfen — ein Team um den bekannten Datenrebellen und Ex-Hacker Thorsten Dittmar, der mithilfe einer Stiftung, eines Unternehmens und einer Genossenschaft die Vorherrschaft der Datenmonopolisten beenden möchte. Er glaubt an radikale Dezentralisierung — und will dafür das nötige Ecosystem anbieten. Will heißen: die von Techgroßkonzernen gespeicherten Daten einsehen, kontrollieren, zurückholen und selbst an Dritte verkaufen. „Wir sind wie Millionen von Davids gegen Goliath“, sagt die Marketingverantwortliche Jessica Dittmar im Interview mit dem Bankspiegel. Die technische Grundlage ist dafür der polyPod, den sich jeder Mensch kostenlos herunterladen kann.
Ich lade mir die kostenlose App herunter, die beim Öffnen so tut, als wäre sie eine Art Bodyguard, der nervige Paparazzi abwehrt: „Hallo, darf ich mich vorstellen? Ich bin Ihr polyPod. In Zukunft möchte ich gerne dafür sorgen, dass Privates privat bleibt.“ Das gefällt mir. Der polyPod schickt mich zunächst zu Facebook und verrät mir, wo ich auf der Seite meine vom Unternehmen gesammelten Daten anfordern kann. Das dauert etwa 24 Stunden — dann lade ich das für mich völlig unverständliche Dokument in den polyPod ein, der die gesammelten Informationen in übersichtliche Grafiken übersetzt. In der jetzigen Betafunktion funktioniert das nur mit Facebook. Später sollen auch andere Datenmonopolisten wie Google ausgelesen werden können. Über 22.000 Dateneinträge hat die Plattform in den vergangenen 14 Jahren über mich gesammelt. Anders als ich erwartet hätte, interessiert Facebook aber nicht, welche Seiten oder Beiträge ich geliked habe. Fast zwei Drittel meiner gespeicherten Daten entfallen auf Nachrichtenverläufe — insbesondere die mit meiner Cousine Laura. Ich rufe sie an und frage, ob wir in den letzten 14 Jahren häufiger über Männerunterwäsche gesprochen haben. Sie sagt: „Nein, aber über Männer vielleicht.“
Damit Unternehmen ihre Werbung möglichst genau platzieren können, erstellt Facebook ein Interessensprofil. Dafür spannt es ein weites Netz auf und lässt sich auch von anderen Firmen Daten über mich geben. Am meisten haben die Datingplattformen OkCupid und Tinder von meinen vermeintlichen Interessen weitergereicht. Allerdings habe ich keine Sexual- oder Lebenspartner mithilfe der Plattformen gesucht, sondern Protagonisten für eine Buchrecherche. Außerdem scheinen auch meine Astrologie-App CoStar sowie meine Musik-App Spotify echte Datenpetzen zu sein.
Facebook sammelt also viele Daten — auch von anderen Unternehmen. Der polyPod zeigt, dass unerwartet viele Firmen — beispielsweise auch PayPal und ein Kratzbaumhersteller (what?) — Daten an Facebook liefern. Die Auswertung scheint mir aber ziemlich ungenau. Die Plattform glaubt tatsächlich, dass Extreme Metal und Visual Key zu meinen größten Leidenschaften gehören. Zumindest sind das zwei von 14 der sogenannten „Werbeinteressen“, die Facebook von mir an Werbetreibende verkauft. Daten zu sammeln, zu reinigen, zu sortieren und zu interpretieren, ist ein kompliziertes und teures Geschäft, an dem eine ganze Industrie beteiligt ist. Trotzdem sind die aufbereiteten Daten oft veraltet oder falsch — also auch für die werbetreibende Wirtschaft ein Problem.
Die polypoly-Genossenschaft möchte, dass ich mich in Zukunft selbst um diese Informationen kümmern kann — Unerwünschtes löschen, Veraltetes aktualisieren. Damit würde ich irgendwann selbst jene Arbeit übernehmen, die bislang von Unternehmen in der Datenverwertungskette übernommen wird — und auch dafür entlohnt werden. Speichert jedes polypoly-Mitglied künftig seine Daten auf eigenen Speichermedien, bildet die Genossenschaft einen gewaltigen dezentralen Datenspeicher voller wertvoller Datensätze für die werbetreibende Wirtschaft. Die soll sich in Zukunft nicht mehr an Facebook oder Google wenden, um Wohnort, Alter und Vorlieben zu ergründen, sondern einfach die Endkund*innen direkt fragen. Unternehmen bekommen aktuelle und saubere Daten, Kund*innen bekommen dafür ein digitales Einkommen, und mit polypoly wächst ein gemeinschaftliches und dezentrales Wirtschaftssystem.
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