BS 2018 / 2 – Das Leben in die Schule holen

Bis zu hunderttausend Unterrichtsstunden absolvieren Schüler*innen bis zu ihrem Abschluss. Eine Menge Zeit, die leider noch immer zu wenig genutzt verstreicht. Lehrer, Bildungsexperten, sogar Hirnforscher fordern immer lauter eine Wende von der Defizit- zu einer Potenzialkultur. Ihr Credo: Nur wenn die Vielfalt der Kompetenzen zur Geltung kommt, lassen sich die Herausforderungen der Zukunft meistern.

Von Thomas Friemel, Journalist

Beginnen wir mit einer Fabel: Im Wald kommen die verschiedenen Jungtiere wissbegierig auf einer Lichtung zum Lernen zusammen. Alle werden auf die gleiche Weise mit demselben Lernstoff unterrichtet. Das geht eine Weile ganz gut. Doch am Ende der vielen Stunden und Tage kann das Eichhörnchen nicht mehr klettern, der Vogel nicht mehr fliegen und der Maulwurf nicht mehr buddeln. Der Neurowissenschaftler und Bildungsexperte Professor Gerald Hüther nutzt dieses Bild gerne, um den Zustand unseres Bildungssystems zu beschreiben. „Denn in unseren Schulen passiert genau das: Die Kinder werden auf eine Länge und in eine Form gebracht. Und all die Begabungen, die jeder in uns trägt, sterben ab.“

Die Misere an deutschen Schulen ist spätestens seit dem Pisa-Schock 2001 zu einem heiß debattierten Thema geworden. Die Liste der Kritik ist lang: verkrustete Strukturen, Lehrermangel, veraltetes Material, zu viel Lehrstoff in zu wenig Zeit. Und dann auch noch der Falsche. Die Suche nach dem besten Bildungssystem ist in vollem Gange. Und das tut auch Not, denn immerhin durchläuft ein Kind, das heute in Deutschland Abitur macht, 100.000 Schulstunden. Also eine Menge Zeit, das Richtige zu tun. Nur: Was ist das Richtige?

Reformer wie Gerald Hüther gehen vom Individuum aus, mit all seinen Facetten. „Kinder können mehr als das, was in der Schule abgefragt wird“, so der Hirnforscher. „Es gibt Kinder, die über eine hohe Sensibilität anderen und ihrem eigenen Körper gegenüber verfügen. Es gibt Kinder mit Empathie, Mitgefühl und Ehrgeiz, etwas in der Welt zu bewegen. Jedes Kind kommt mit einer bestimmten Begabung zur Welt. Und das ist das wichtigste Potenzial, das wir haben. “

Dieses zu heben, darin sind sich Experten*innen einig, funktioniert sicher nicht mit Frontalunterricht und klassischen Klassenarbeiten. Denn die meisten Schülerinnen und Schüler ackern nur für eine gute Note, nicht für einen nachhaltigen Bildungszuwachs. „Lernbulimie“ nennen das Kritiker*innen: Wissen in kürzester Zeit für ein gutes Ergebnis in sich hineinfressen, um es nach der Klausur auf Nimmerwiedersehen wieder auszuspeien.

BS 2018 / 2 - Das Leben in die Schule holenDass es auch anders geht, hat Dr. Thilo Koch über Jahre bewiesen. Der Lehrer kam 2001 aus Baden-Württemberg an die Waldorfschule in Potsdam, wo er das sogenannte Portfolio-Arbeiten einführte. Das Prinzip: Schülerinnen und Schüler suchen sich ein Thema aus, das sie in sechs bis acht Stunden pro Woche auch fächer- und klassenübergreifend selbstständig beackern. „Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen: Was sind valide Fakten? Was ist wichtig, was lasse ich weg? Wie füge ich alles zu einem Paket zusammen?“ Am Ende steht ein Vortrag vor Lehrern und interessierten Mitschülern. Und die Erkenntnis beim jungen Referenten: Ich bin ein Experte! „Das schafft ein enormes Selbstvertrauen“, so Koch, der mittlerweile pensioniert ist. Der Clou: Die Portfolios sind Ersatz für Klassenarbeiten und können sogar im Abitur bewertet werden. Und sie helfen bei Bewerbungen. Koch erzählt von einem Schüler, der sein Motorrad komplett auseinandernahm und wieder zusammenschraubte. Den Prozess hatte er dokumentiert und in eine Präsentation gegossen, die er einem lokalen Reparatur-Service für die städtische Fahrzeug-Flotte schickte. „Sie können morgen bei uns anfangen“, bekam er als Antwort. „So etwas hatten sie vorher noch nie gesehen“, ist Koch noch heute begeistert.

Der Arbeitsaufwand für eine Portfolio-Arbeit ist allerdings nicht nur bei den Kindern hoch, sondern auch bei den Lehrern. „Sie müssen Rückmeldungen geben, Zwischenergebnisse begutachten und besprechen“, so Koch. Lehrer erhielten so Einblicke in die individuellen Lernprozesse und könnten ihrerseits lernen, wie sie den einzelnen Kindern den Lernstoff am besten nahebringen können. Koch: „Das ist wahre Pädagogik. Bei Frontalunterricht wissen Lehrer
gar nichts vom Schüler. Da kriegen sie von ihm nichts mit, außer wenn er schläft. Beim Lehrer muss ein originäres Interesse am Lernen und am Kind vorhanden sein.“ Dann seien auch Fehler ausdrücklich erlaubt. „Es geht uns nicht um Aburteilen, sondern Fehler als etwas Wunderbares zu begreifen, aus denen man lernen kann“.

Auch für Gerald Hüther geht es ums Ausprobieren, um die Wahrung der angeborenen Entdeckerfreude und Gestaltungslust der Kinder. Neurowissenschaftler wie er bestätigen schon seit längerem, dass sich mit Freude und Lust Erlerntes am besten zur Verdrahtung der Hirnsynapsen eignet. Das Erleben und Entdecken seien die grundlegenden Werkzeuge, um sich Wissen nachhaltig anzueignen. Aktives Lernen, sagen die Experten dazu. „Das heißt, selbst zu entscheiden, was wie und welchem Tempo gelernt wird“, erklärt Kognitionspsychologe Dr. Björn Meder vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. In diversen Studien des Forschungsprogramms iSearch konnten er und seine Kollegen zum Beispiel die Vorteile aktiven Lernens für die Gedächtnisleistung bei Kindern nachweisen.

Auch für Margret Rasfeld, jahrelang Schulleiterin der international renommierten Evangelische Schule Berlin, dreht sich alles um die Entfaltung von Potenzialen. Dafür sei auch die Öffnung der Schulen nach außen wichtig. Alle Schüler engagieren sich sozial oder ökologisch im Gemeinwesen und erleben dabei, dass sie etwas bewirken können. Es geht um Sinn und Herzensbildung. Klassen könnten etwa mit Altenheimen zusammenarbeiten, um den Garten neu zu gestalten. Kurse organisieren Sportfeste gemeinsam mit Behinderten und erleben Inklusion. „Wenn unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen sollen, dann müssen wir das Leben in die Schule holen. Und Schule muss rausgehen ins echte Leben“, so Rasfeld. „Dann stellt das Leben die Fragen.“

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Eine Antwort zu „BS 2018 / 2 – Das Leben in die Schule holen“

  1. Avatar von Steffen Förster
    Steffen Förster

    |

    Mich würde interessieren, auf welcher Rechnung die hunderttausend Unterrichtsstunden basieren. Wenn ich mal von 12 Schuljahren ausgehe und die Kinder an 365 Tagen im Jahr zur Schule gehen würden, müssten diese dann immer noch ca. 23 Stunden im Unterricht verbringen 🙂

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