Das Konzept des Ökozids als internationales Verbrechen entstand vor rund 50 Jahren während des Krieges der USA gegen Vietnam. Grund dafür war der militärische Einsatz von 45 Millionen Litern Agent Orange, einem chemischen Entlaubungsmittel, das mit hochtoxischem Dioxin ein Siebtel der Gesamtfläche Vietnams langfristig kontaminierte. Mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung, Tierwelt und Natur. Heute sind es in erster Linie kapitalistische Motive, die die Zerstörung der Natur billigend in Kauf nehmen. Die Organisation Stop Ecocide fordert ein neues, hartes Umweltstrafrecht, um diese Verbrechen zu verhindern und ihre Verursacher zur Verantwortung zu ziehen. Wir sprachen mit dem Leiter der deutschen Abteilung, Wolf-Christian Hingst, über seine persönliche Motivation, die Bewegung und ihre politische Relevanz.
Es gibt unzählige Organisationen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen. Was unterscheidet Stop Ecocide?
Wolf-Christian Hingst: Die Anerkennung von schwerer Naturzerstörung als Kapitalverbrechen statt Kavaliersdelikt schafft grundsätzlich andere Rahmenbedingungen. National und international. Diese Anerkennung nützt unmittelbar allen Menschen und Organisationen, die sich für Naturschutz einsetzen. Viele Staaten, Parlamente, Organisationen und Prominente unterstützen unsere Forderung, Ökozid als fünftes Verbrechen gegen den Frieden in das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufzunehmen. Mit wenigen Klicks kann sich jede und jeder mit unserer internationalen Petition dieser Forderung anschließen.
Angesichts der aktuellen Wahlergebnisse bietet sich hier eine große politische Chance für sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Veränderung: Im Kern geht es beim Ökozid-Konzept um Gerechtigkeit und Verantwortung. Diese beiden Themen sind gut geeignet, um über Meinungsgrenzen hinweg eine gemeinsame Basis zu fördern. Die Politik muss den Rahmen schaffen, in dem wir alle unserer Verantwortung gerecht werden können. Und damit jede und jeder im eigenen Bereich verantwortlich handelt, müssen insbesondere die zentralen Entscheidungen mit globalen Auswirkungen entsprechend verantwortet werden. Und diese Verantwortung wiederum verändert die Entscheidungen und macht sie gerechter.
Das Strafrecht dient in diesem Zusammenhang der Vorbeugung, indem es dazu anregt, sorgfältig überlegte Entscheidungen über Aktivitäten zu treffen, die für die Welt sehr gefährlich sein können. Das Ökozid-Konzept ist dabei pro Wirtschaft gedacht: Es geht darum, verantwortungsvolle Unternehmen vor skrupelloser Konkurrenz zu schützen. Darüber hinaus, und das ist sehr wichtig, ist das Strafrecht eng mit den gesellschaftlichen Werten und Vorstellungen von Recht und Unrecht verbunden. Wenn wir Ökozid unter Strafe stellen, wird die massive Schädigung oder Zerstörung von Ökosystemen inakzeptabel. Wir brauchen dieses neue Tabu.
Gibt es ein Erlebnis oder einen Moment, der Sie zum Kampf gegen den Ökozid aktiviert hat?
Wolf-Christian Hingst: Ich war mit meiner großen Tochter 2019 im Osterurlaub in London. Es waren sommerlich warme Tage. Wir kamen aus einer U-Bahnstation und standen plötzlich mitten in einer Großdemo: Extinction Rebellion hatte ganz London lahmgelegt. Vor uns ragte ein pinkes Segelboot in den blauen Himmel, mit dem die Kreuzung blockiert wurde und das als Bühne diente. Hinter uns war eine vegane Küche aufgebaut und versorgte alle mit Essen. Es war eine so friedliche und kreative und gleichzeitig so klare und engagierte Atmosphäre, die mich tief berührt hat. Zum ersten Mal habe ich verstanden, warum ich all die Jahre so ein diffuses Gefühl von Bedrohung hatte.
Mit dem Bewusstsein über Klima-Kipp-Punkte und Artensterben konnte ich nach dem Urlaub nicht so weitermachen wie vorher. Und dann lernte ich Stop Ecocide kennen und habe sofort verstanden, welche bahnbrechenden Potenziale in dem klaren Konzept stecken, die schlimmsten Naturzerstörungen global wirksam zu ächten und die verantwortlichen Entscheidungsträger weltweit zur Verantwortung zu ziehen.
Das Wort Ökozid ist wohl für die meisten Menschen assoziiert mit Begriffen wie Genozid oder Femizid. Warum reicht das Wort Umweltverschmutzung nicht mehr aus?
Wolf-Christian Hingst: Ökozid ist ein mächtiges Wort. Es beschreibt so deutlich wie kein anderes, um was es geht: nichts weniger als die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten. Die Abholzung des Regenwaldes, aber auch der letzten Urwälder Europas sind ebenso Beispiele dafür wie die Pestizid– und Plastikverseuchung von Boden und Wasser oder die gigantischen Tagebau-Ausbeutungen, die Ölkatastrophen oder der Tiefsee-Bergbau.
Allein die Nutzung des Wortes Ökozid hat schon Wirkung. Es schmerzt in den Ohren und im Herzen. Und die global stark zunehmende Verwendung zeigt der Politik und der Wirtschaft, dass es höchste Zeit ist, die Rahmenbedingungen zu verändern. Und es zeigt, dass immer mehr Menschen dahinterstehen.
Das Wort Ökozid lehnt sich an die Entstehungsgeschichte des Wortes Genozid an und beschreibt ebenso Verbrechen von solcher Tragweite, dass sie die Menschheit als Ganzes betreffen. Die beiden Tatbestände sind jedoch in keiner Weise vergleichbar: Während gerade der Vorsatz, ganze Gruppen auszulöschen, den Genozid zum Crime of Crimes macht, ist es beim Ökozid die billigende Inkaufnahme der Zerstörung.
Wie ist der momentane Stand der Rechtsprechung in Deutschland und der EU? Es gibt ja schon das Umweltstrafrecht in Deutschland. Welche Lücken sehen Sie?
Wolf-Christian Hingst: Die EU hat zu Ostern 2024 ein neues Umweltstrafrecht in Kraft gesetzt, das neben deutlich verbesserten Regeln zur Zusammenarbeit und Strafverfolgung 20 Tatbestände auflistet, die in besonders schwerer Form „vergleichbar mit Ökozid“ sind. Darunter fallen beispielsweise die Verseuchung von Boden, Wasser und Luft, die Zerstörung von Lebensräumen oder illegale Abholzung.
Besonders interessant sind dabei Erleichterungen, um bereits erteilte Genehmigungen nachträglich gerichtlich zu überprüfen. Denn Behörden können Emissionen, Abwässer oder Abholzung genehmigen, die grundsätzlich verboten sind. Das deutsche Wort dafür ist „Verwaltungsakzessorietät“ und beschreibt, wie einfache Verwaltungsbeamte das Strafrecht aushebeln. Dabei müssen zwar Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden, aber wenn es um Arbeitsplätze und Gewerbesteuern geht, ist leicht absehbar, in welche Richtung diese Abwägung regelmäßig ausschlägt.
Was ist der nächste große Schritt, den Sie und Stop Ecocide im Kampf gegen Umweltverbrechen erreichen wollen?
Wolf-Christian Hingst: Das neue EU-Umweltrecht, genauer gesagt, die „Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt“ legt Mindestvorschriften zur Bestimmung von Straftatbeständen und Sanktionen fest. Ausdrücklich werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, über diese Mindeststandards hinauszugehen. Genau das ist unser Fokus derzeit. Gemeinsam mit WeMove Europe und weiteren Partnern wie der Suchmaschine ECOSIA haben wir eine europaweite Petition gestartet, um die Regierungen aufzufordern, im Rahmen der Umsetzung ein eigenständiges Ökozid-Gesetz einzuführen.
Diese Umsetzung in Europa ist ein zentraler Meilenstein auf dem Weg, Ökozid als fünftes Verbrechen gegen den Frieden einzuführen und international zu ächten. Um diese beiden Ziele zu erreichen, ist die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und insbesondere der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. Nur so kann die Politik davon überzeugt werden, dass diese Schritte nicht nur moralisch geboten, sondern auch angebracht und ungefährlich sind.
Insofern ist die Unterstützung der GLS-Bank ganz besonders wertvoll. Herzlichen Dank dafür!
Weitere Infos: https://www.stopecocide.de/
Headerfoto: Jenny Lord
Schreibe einen Kommentar