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Weit mehr als nur ein Bett

Schwerpunktthema | Wir machen Zukunft

Wohnen ist ein Grundrecht. Und doch gehören obdachlose Menschen zum Alltagsbild. In Lüneburg soll niemand auf der Straße leben müssen. Seit 150  Jahren gibt der Verein „Lebensraum Diakonie“ Menschen ohne Wohnung bedingungsloses Obdach und damit die Aussicht auf ein anderes Leben.

Autor: Christiane Langrock-Kögel

Ihre Tasche lässt sie nicht aus den Augen. Sie baumelt, der Reisverschluss sorgsam zugezogen, an ihrer rechten Schulter. Oder steht griffbereit neben ihren Füßen, wenn Jasmin am Tisch sitzt. In der prall gefüllten Stofftasche steckt all das, was sie nicht aus der Hand geben will. Vor fünf Jahren hat Jasmin, die anders heißt, ihre Wohnung verloren. Seitdem lebt sie unter dem Dach der HERBERGEplus, in einem hellen Zimmer mit weiser Tür, die sie schließen kann. Doch die Erfahrung, plötzlich auf der Straße zu stehen, sitzt tief. Jasmin ist abgerutscht, der Weg in ein unabhängiges Leben scheint weit. Vielleicht braucht sie deshalb die Gewissheit, das Wichtigste stets bei sich zu tragen. In der grauen Tasche, neben ihren Füßen.

Bewohnerin der neuen Herberge Plus Wohnung. Möchte nicht zu erkennen sein.
Fürsorglich und inklusiv

In Deutschland leben mehr als 260.000 Menschen ohne Wohnung, so heißt es im ersten „Bericht zur Obdach- und Wohnungslosigkeit“ der Bundesregierung, veröffentlicht 2022. Ende des Jahres 2024 werden diese Zahlen aktualisiert, aber jetzt schon ist klar: Sie haben sich nach oben bewegt.

Dafür gibt es finanzielle Gründe wie prekäre Jobs, den teuren Wohnungsmarkt, steigende Lebenshaltungskosten und einen Mangel an Sozialwohnungen. Menschen verlieren ihre Wohnungen aber auch, weil sie entlassen oder psychisch krank werden, weil sie von Drogen abhängig sind, in Streit mit Vermieter*innen geraten, Trennung erleben. Kein Dach über dem Kopf zu haben, nimmt ihnen die Möglichkeit, ihre Grundbedürfnisse ganz privat zu stillen: Essen, Schlafen, Ruhe finden.

In den vergangenen Jahren ist das Risiko eines gesellschaftlichen Abstiegs größer geworden, auch für junge Leute. Und er trifft auch Menschen, die kurz zuvor noch ein relativ gesichertes, bürgerliches Leben führten. Umso wichtiger sind Konzepte wie das in Lüneburg. Es zeigt, wie eine inklusive, fürsorgliche Stadtgemeinschaft aussehen kann, und gibt anderen Städten ein Beispiel.

Seit einem guten Jahr leitet Thorben Peters die HERBERGEplus, untergebracht in einem Backsteinbau am Rande der Altstadt. Die unter Denkmalschutz stehende frühere Haftanstalt ist eines der Wohn- und Beratungsprojekte von Lebensraum Diakonie. Hinter dem Hauptgebäude erstreckt sich ein flacher Ergänzungsbau aus Holz. Rund 100 Menschen leben hier betreut von einem 30-köpfigen Team. „Unterkunft und Schutz sind ein indiskutables Grundrecht“, sagt Herbergsleiter Peters. „Wir sind die letzte Tür, die offen bleibt.“ 50 Betten für ein schlichtes Obdach stellt die Herberge bereit; ebenso viele Menschen nimmt sie stationär auf und begleitet sie durch einen langfristig angelegten Hilfeprozess. „Wir mochten ein Ort sein, an dem Veränderung und Entwicklung wartet“, sagt Peters. „Im besten Fall sind wir die erste Adresse eines neu zu gestaltenden Lebens.“

Von dem Ausweg, den die HERBERGEplus aufzeigen  will, spricht auch Tanja Mainz, Vorstandsvorsitzende des Vereins. Sie blinzelt in die Märzsonne, auf einer Bank vor dem Eingang der Herberge. Neben ihr sitzt Christian Cordes, Superintendent des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Lüneburg und Aufsichtsrat des Lebensraums. „Viele Menschen versauern in den Unterkunften“, sagt er. „Ein Bett und ein Bad reichen nicht, um sie zu resozialisieren.“ Wer sich für eine stationäre Aufnahme in der HERBERGEplus entscheidet, wird in seinem Alltag von Sozialarbeiter*innen begleitet, zum Beispiel in bürokratischen Angelegenheiten oder im medizinischen Bereich. Das langfristige Ziel: wieder allein klarkommen. Vielleicht sogar in den Beruf zurückzukehren  und den Schlüssel für eigene vier Wände zu bekommen. Zum Konzept der HERBERGEplus gehören auch Mietwohnungen, die von den Klient*innen selbst finanziert oder vom Amt bezahlt werden. Wie viele schaffen es in ein selbstbestimmtes Leben? Thorben Peters antwortet offen. „Von acht Klienten geht es bei vieren voran. Zwei drehen sich im Kreis. Und bei den anderen zweien können wir die Verschlechterung nur bremsen.“

Superintendent Christian Cordes, die Vorsitzende des Vereins Lebensraum Diakonie Tanja Mainz und der Leiter der Herbere Plus Thorben Peters.

Die Mietwohnungen, das Obdach, die stationäre Begleitung – alles ist voll ausgelastet. Peters blickt auf den in die Jahre gekommenen Holzbungalow. Er ist bereits leer geräumt, seine Bewohner*innen, unter ihnen Jasmin, sind vor ein paar Tagen in ein umgebautes altes Gasthaus in fünf Minuten Fußentfernung umgezogen. Demnächst rückt das Abrissunternehmen an, danach beginnen die Bauarbeiten. Bis Ende 2025 soll an derselben Stelle ein dreistöckiges Gebäude entstehen, ein inklusiver Bau mit Fahrstühle und einem Pflegebad, 36 Zimmern, 12 stationären Platzen und 24 Mietwohnungen. „Damit verdoppeln wir die Kapazitäten des Holzbaus“, sagt Vereinsvorsitzende Mainz. Einen Großteil der neun Millionen Euro Baukosten finanziert ein Kredit der GLS Bank. „Wir sind ein gemeinnütziger Verein und machen keine großen Gewinne“, sagt Tanja Mainz. „Aber die GLS glaubt an uns und unser Leuchtturmprojekt – das ist ein gutes Gefühl.“

Superintendent Christian Cordes, die Vorsitzende des Vereins Lebensraum Diakonie Tanja Mainz und der Leiter der Herbere Plus Thorben Peters.
Blick ins Zimmer in der neuen Unterkunft in Lüneburg
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Blick ins Zimmer in der neuen Unterkunft in Lüneburg
Reinlich und renoviert

Einige Minuten später biegt Jasmin um die Hausecke, ihre Tasche geschultert. „Ich erzähle meine Geschichte gerne“, sagt die 50-Jährige. „Kommt doch später zu meinem neuen Zimmer.“ Ihr gefällt das Ausweichquartier. „Alles ist so schon renoviert und reinlich“, sagt sie. In ihrem Zimmer steht ein metallenes Bett, ein Zweiplattenherd und ein Gestell mit feuchter Wäsche – sie hat die Waschmaschine in der Gemeinschaftsküche ausprobiert. Jasmin hat früher in der Gastronomie gearbeitet und hofft, dass eines Tages wieder tun zu können. Ihr Gesicht mochte sie deshalb nicht zeigen.

Wie schlecht es ihr ging, als sie 2018 in der Herberge ankam, wie viel Wut in ihr steckte, kennt Thorben Peters nur aus Erzählungen. Er lehnt an der Kuchenzeile in dem alten Gasthof und lacht sie an. „Jasmin, manchmal kann ich gar nicht glauben, dass Sie früher so gewesen sein sollen.“ Jasmin lacht auch. Dreieinhalb Jahre, erzahlt sie, habe sie nach einer Wohnung mit unbefristetem Mietvertrag gesucht. Dann stand sie auf der Straße. Am ersten Abend kehrte sie vor der Tür der HERBERGEplus wieder um. Einen Tag später kam sie wieder. Das war 2018.

„Niemand gehört hier hin“, sagt Peters. „Wenn es so weit kommt, zeigt das immer auch ein Versagen unserer Gesellschaft und ihrer Hilfssysteme.“ Peters ärgert, dass er oft zu verstehen bekommt, seine Klient*innen seien selbst schuld an ihrem Elend. „Es kann jedem von uns passieren.“ Eine Bitte hat Jasmin noch. In diesem Artikel solle unbedingt stehen, wie dankbar sie sei. Und dass es auch ihren Mitbewohner*innen so gehe. Wenn der Neubau Am Benedikt in zwei Jahren fertig ist, hofft Jasmin, in eine der Mietwohnungen ziehen zu können. Sie mochte in der vertrauten Umgebung bleiben. „Ich fühle mich hier umsorgt“, sagt sie. „Die Herberge ist mein Zuhause geworden.“

Ich fühle mich hier umsorgt.

Jasmin*

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Gmeinschaft bewegt: Warum wir das Soziale in den Mittelpunkt stellen, erzählen Menschen aus der GLS Bank im Video.
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2 Antworten zu „Weit mehr als nur ein Bett“

  1. Avatar von Matthias
    Matthias

    |

    Danke für den Artikel. Ein Hinweis: Der Absatz „Seit einem guten Jahr […]“ ist im Text doppelt.

    1. Avatar von Silke Bender

      |

      Herzlichen Dank für Dein wachsames Auge, lieber Matthias – wir haben den doppelten Absatz entfernt 🙂
      Deine GLS Online-Redaktion

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