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Gemeinsame Sache

Kolumne von Philip Kovce, Autor

Früher war zwar nichts alles besser, aber vieles einfacher. Beispiel Bauernhof: Die Eltern des Bauern wurden auf dem Bauernhof alt und die Kinder des Bauern auf dem Bauernhof groß. Der Sohn des Bauern wurde Bauer, weil der Vater Bauer war, und die Tochter des Bauern wurde Bäuerin, weil sie mit einem anderen Bauern verheiratet wurde. Der Schuster blieb bei seinen Leisten und der Apfel fiel nicht weit vom Stamm.

Heutzutage werden Tellerwäscher Millionäre, Hollywoodschauspielerinnen Herzoginnen, Männer Kindergärtner und Frauen Bundeskanzler. Inzwischen heiraten Schwule und Lesben und „Bauer sucht Frau“ heißt eine Reality-TV-Show. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Wenn wir Heutigen auf die damaligen Verhältnisse zurückblicken, dann neigen wir dazu, diese entweder als Familienparadies schönzureden oder als Sippenhaft schwarzzumalen. Dabei waren sie weder bloß schön noch ausschließlich schrecklich, sondern vor allem eines: eine andere Zeit. Der Einzelne wurde das, was seine Eltern waren. Er erbte ihren Glauben, ihr Wissen, ihren Beruf. Er setzte ihre Biografie quasi ungebrochen fort. Das riskante Manöver der Freiheit, die individuelle Biografie, musste erst noch erfunden werden.

Was damals noch nicht etabliert war, das gilt uns dieser Tage längst als Grundrecht: nämlich die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Doch gehen damit nicht nur freie Berufs- und Partnerwahl einher, sondern ebenso all die ätzenden Selbstzweifel, die das moderne Subjekt andauernd quälen. Das unsichtbare Band, das über Jahrhunderte hinweg die Generationen verknüpfte und dem Einzelnen seinen Platz im Ganzen zuwies, ist gerissen. Im Individualismus ist jeder Einzelne eine Parallelgesellschaft. Was wir mit uns selbst und den anderen zu tun haben, ist nicht mehr festgelegt, sondern fraglich geworden.

Was folgt daraus? Ich komme hier und heute nicht umhin, mich und meinen Platz in der Welt selbst zu bestimmen — und gerade weil dies so ist, bin ich mehr denn je auf andere angewiesen! Je individueller wir werden, desto mehr haben wir miteinander zu tun. Wir stehen als Fragen, nicht bloß als Antworten vor uns. Und wir sind einander zugleich die Antworten, nicht bloß die Fragen. Ich bin nicht mehr auf immer und ewig dieser oder jener, sondern werde immer wieder ein anderer, wenn ich aus freien Stücken mit anderen zusammenwirke.

Kurz gesagt: Uns verbindet keine Notwendigkeit mehr. Uns verbindet, wenn wir es wollen, die Freiheit. Freiheit nicht als manisch-depressiver Ellenbogenliberalismus, sondern als eine gemeinsame Sache.

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