Reinhard Loske ist ein interdisziplinär arbeitender Nachhaltigkeitsforscher. Von 2013 bis 2019 war er Universitätsprofessor für Politik, Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke. Bis Oktober 2021 war er Präsident der Cusanus Hochschule in Koblenz und Professor für Nachhaltigkeit und Gesellschaftsgestaltung am dortigen Institut für Ökonomie. Auch im politischen Raum hat Loske bis 2011 zahlreiche Funktionen innegehabt. So war er zum Beispel für die Grünen im Bundestag und später Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen. Für das GLS Blog rezensiert Reinhard Loske zwei Sachbücher: „Qualität!“ von Dirk Hohnsträter und „Lieferketten“ von Caspar Dohmen.
Wenn nun ab Dezember in Deutschland wirklich eine Politik der Nachhaltigkeit verfolgt werden soll, werden Zahlen sicher eine entscheidende Rolle spielen. Das hat etwas für sich, denn Zahlen sind überprüfbar.
Da ist von Ausstiegen aus der Kohle und dem Verbrennungsmotor bis 2030 die Rede, von hohen jährlichen Ausbauzielen für Windenergie, Photovoltaik und Elektromobilität, von einer Erhöhung der jährlichen Rate der energetischen Gebäudesanierung von derzeit einem Prozent des Bestandes auf zwei oder drei Prozent – und über allem vom Erreichen der sogenannten Klimaneutralität im Jahr 2045.
Zeit der luftigen Versprechungen ist vorbei
Es ist nachvollziehbar, dass das Quantitative in den Planungen zum Klimaschutz und zur Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle spielt, denn die Zeit der luftigen Versprechungen und ungedeckten Wechsel ist endgültig vorbei. Zu lange haben sich westliche Industrienationen wie die Bundesrepublik trotz all des Wissens über die Erderwärmung, das seit über dreißig Jahren zur Verfügung steht, um das Notwendige herumgedrückt und ihr Klimakonto gnadenlos überzogen – zu Lasten junger und zukünftiger Generationen, zu Lasten von Menschen in der globalen Südhemisphäre, zu Lasten der nicht-menschlichen Kreatur.
Im Grunde ist die Dringlichkeit der notwendigen Aus- und Umstiege die logische Konsequenz aus dem, was die „Fridays for Future”-Bewegung in Appellen wie „Unite behind the Science!“ oder „Mit der Physik kann nicht verhandelt werden!“ pointiert zusammenfasst. An der Wissenschaft kommt niemand vorbei, auch wenn sie uns keine unmittelbaren Werte und Handlungsanweisungen geben kann. Das Kohlenstoffbudget, das den Staaten bei Einhaltung der Pariser Klimaziele noch zur Verfügung steht, reicht wegen unterlassenen Klimaschutzes in der Vergangenheit nicht mehr sonderlich weit. Würden wir ehrlich bilanzieren, müsste die klimagerechte Gesellschaft hierzulande bis spätestens 2035 erreicht sein.
Visionäre Zukunftsbilder sind unverzichtbar
Wichtig ist aber auch: Über die Zahlen und das Zählen sollte das Erzählen nicht vergessen werden. Soziale Phantasie, politische und ökonomische Kreativität brauchen neben dem Verständnis des Notwendigen, ja Unabweisbaren auch Vorstellungen vom Erstrebenswerten. Visionäre Zukunftsbilder und Zukunftserzählungen sind deshalb unverzichtbare Treiber für den Prozess der Gesellschaftsgestaltung. Zahlenwerk allein wird dafür nicht reichen – und sei es noch so gut begründet.
In seinem Roman „Nachrichten aus dem Kellerloch“ von 1864 lässt Fjodor Dostojewskij dieses Dilemma präzise aufscheinen, als er seinen an der reinen Vernunft zweifelnden Protagonisten sagen lässt: „Was ist denn das für ein Vergnügen, nach einer Tabelle zu wollen? … Was ist denn ein Mensch ohne Wünsche, ohne Willen und ohne Begehren anderes als ein Stiftchen an einer Drehorgelwalze?“
Zur Rezension: Zwei zentrale Leitorientierungen für nachhaltiges Wirtschaften
In den zurückliegenden drei Dekaden ist eine Fülle von Studien und Büchern erschienen, die sich an solchen Zukunftsbildern und -erzählungen versuchen. Dabei reißt der Strom an guten Ideen für einladende Zukunftserzählungen nicht ab. Zwei in den letzten Monaten erschienene Bücher sind dabei hervorzuheben: „Qualität!“ von Dirk Hohnsträter und „Lieferketten“ von Caspar Dohmen.
Neue Qualitäten: Klasse anstelle von Masse
Hohnsträters „Qualität!“ mit dem Untertitel „Von der Kunst, gut gemachte Dinge zu entdecken, klug zu wählen und genussvoll zu leben“, erschienen im Wiener Verlag Brandstätter, befasst sich auf den ersten Blick eher mit Warenkunde, Produktdesign und Lebensstilen als mit Gesellschaftsgestaltung. Je tiefer man jedoch in die Gedankenwelt des „Konsumkultur“-Wissenschaftlers aus Hildesheim eintaucht, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, hier einer philosophischen Grundlegung von „gut gemachten Dingen“ und deren Auffinden zu folgen, die Gehaltvolles an die Stelle von Schund setzen will, Klasse an die Stelle von Masse.
Dabei outet sich Hohnsträter gleich als mehrfacher Skeptiker: gegenüber einer Rhetorik des grünen Kapitalismus, die unentwegt grünes Wachstum und grüne Märkte preist; gegenüber einer Rhetorik der Askese, die in Konsum per se etwas Verwerfliches sieht; gegenüber einem „Qualitätsnationalismus“, der nur die Wettbewerbsvorteile für das eigene Land kennt („Made in Germany“) und wenig Empathie für andere und ihre Anliegen empfindet.
Konzentration aufs Wesentliche
Stattdessen hält Hohnsträter ein Plädoyer für die Förderung von Qualitätsbewusstsein, Urteilsvermögen und Konzentration auf das Wesentliche in allen Lebensbereichen und führt dies beispielhaft an den Sektoren Handwerk, Digitalwirtschaft und Industrieproduktion aus. Die Quintessenz seiner Überlegungen liegt wohl am ehesten in Kapitelüberschriften wie „Weniger, aber besser“, „Für ein erweitertes Qualitätsverständnis“ und „Demokratisierung des Kennertums“. Gerade letztere scheint dem Autor wichtig, damit Qualitätsbewusstsein nicht das Privileg eines wohlhabenden grünen Bürgertums bleibt, das sich gut gemachte Dinge und einen entsprechenden Habitus leisten kann, um diesen dann als Distinktionsgewinn zu nutzen.
Hier werden Hohnsträters Ideen dann auch anschlussfähig für eine Nachhaltigkeitspolitik auf der Höhe der Zeit, denn längst ist allen Einsichtigen klar, dass es bei der Nachhaltigkeit nicht nur um Technologiewandel und ökonomischen Strukturwandel geht, sondern mindestens ebenso sehr um Kulturwandel, Wertewandel und Lebensstilwandel. Diejenigen, die den Terminus „Verzicht“ im Politikbetrieb bislang scheuen wie der Teufel das Weihwasser, können sich entspannen. Es geht um Qualität. Und die erfordert nun einmal Konzentration aufs Wesentliche, inklusive Verzicht auf Überflüssiges.
Es herrscht: Lieferketten-Kapitalismus
Um Qualitäten und Respekt vor den Leistungen anderer geht es letztlich auch in dem Buch „Lieferketten. Risiken globaler Arbeitsteilung für Mensch und Natur“ des Wirtschaftsjournalisten Caspar Dohmen, das bei Wagenbach erschienen ist. Dohmen, der aus einer sozial-ökologischen und menschenrechtlichen Perspektive schreibt, zeigt in seinem schlanken Band anhand praktischer Beispiele sowie historischer Entwicklungen, wie ungerecht die derzeitige Struktur der internationalen Arbeitsteilung ist.
Im Lieferketten-Kapitalismus heutiger Provenienz dominieren Machtasymmetrien, Kosten- und Zeitdruck, umfassende Zergliederung und räumliche Entkopplung von Produktionsprozessen sowie Anonymität. Es gelingt den großen Unternehmen der industrialisierten Welt, sich die wertschöpfungsintensiven Stufen der wirtschaftlichen Arbeitsteilung am Anfang und am Ende eines Produktes zu sichern, nämlich Forschung & Entwicklung, Patentierung, Marketing, Verkauf und Vertrieb, während den Ländern des globalen Südens und ihren Unternehmen oft nur die dazwischen liegenden und weniger ertragreichen Stufen bleiben, Rohstoffförderung und Produktion. Eklatant niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und schwache Sozialstandards sowie Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen im globalen Süden gehören zu den Schattenseiten der günstigen Textilien, Genussmittel und ressourcenintensiven Digitalgeräte, auf die die reichen Staaten des globalen Nordens nur ungern hingewiesen werden.
Lieferketten – Sensibilität ist enorm gestiegen
Durch Katastrophen wie den Einsturz der Textilfabrik „Rana Plaza“ in Bangladesh 2013 oder den Bruch des vom TÜV Süd zertifizierten Damms der Eisenerzmine „Corrégo do Feijão“ in Brasilien 2019 ist die Sensibilität gegenüber sozial und ökologisch „schmutzigen“ Lieferketten aber enorm gestiegen. Hier setzen auch Dohmens Politikvorschläge an, die weit über das unlängst vom Bundestag verabschiedete Lieferkettengesetz hinausgehen. So sympathisch dem Autor konsumseitige Initiativen wie die „Fair Trade“-Bewegung sind, so sehr sieht er doch angesichts der Intransparenz der Lieferketten und der Asymmetrie in den Machtverhältnissen zwischen Nord- und Südhemisphäre die Notwendigkeit politischer Regulierung auf europäischer und globaler Ebene.
Seine Vorschläge haben es in sich und reichen von der Haftung von Audit-Unternehmen für ihre Risikobewertungen über einen internationalen Arbeitsgerichtshof bis zu einer neuen Form der ökologischen und sozialen Gemeinwohlbilanzierung von Unternehmen, von fairen Handelsabkommen bis zu Grenzausgleichsmechanismen gegenüber Wettbewerbern, die Sozial- und Umweltdumping betreiben. Würden Dohmens Vorschläge realisiert, wäre der Welthandel noch immer frei, im eigentlichen Sinne vielleicht sogar freier als derzeit, vor allem aber wäre er sozial und ökologisch eingebettet und rechenschaftspflichtig.
Elementare Dinge im Nahraum bereitstellen
Nur angedeutet wird bei Dohmen die Tatsache, dass Nachhaltigkeit heute mindestens in Teilen auch De-Globalisierung, Re-Regionalisierung und Entschleunigung von Wirtschaftsprozessen bedeuten muss, was nicht zuletzt die Corona-Krise unterstreicht. Wer die Resilienz von Gesellschaften erhöhen will, muss auch ihre Verletzlichkeit und Außenabhängigkeit reduzieren und die elementaren Dinge im Nahraum bereitstellen. Das ist kein Plädoyer für generelle Weltmarktabkopplung, sehr wohl aber dafür, die internationale Arbeitsteilung auf ein umwelt- und sozialverträgliches Maß zurückzuführen. Positiv ausgedrückt: Die Erhöhung innerregionaler Produktionsverflechtungen stärkt die Binnenökonomie und macht sie gegenüber externen Schocks weniger anfällig, seien es Ressourcen- oder Umweltkrisen, Konjunktur- oder Finanzmarktkrisen oder neue Pandemien.
Weitere spannende Artikel auch zum Thema Lieferketten im GLS Blog. Sowie ein interessantes Interview mit Reinhard Loske.
Natur, Kapitalismus und das Neue – Interview mit Reinhard Loske
Dirk Hohnsträter
Qualität! – Von der Kunst, gut gemachte Dinge zu entdecken, klug zu wählen und genussvoll zu leben. Ein leidenschaftliches Plädoyer für einen guten Konsum!
ISBN: 978-3-7106-0509-3
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Caspar Dohmen
Lieferketten – Risiken globaler Arbeitsteilung für Mensch und Natur
ISBN 978-3-8031-3706-7
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