Warum die Corona-Pandemie polarisiert und was wir dagegen tun können
Corona hat unglaublich viel Solidarität ausgelöst, auch in der GLS Community! Die Pandemie brachte aber gleichzeitig viele Ängste an die Oberfläche, etwa die Angst vor dem Sterben. Kein Wunder, wie emotional manche Mitmenschen uns auffordern können, die Maske zu tragen. Denn die Angst vor dem Tod ist existenziell. Bei anderen hat Corona in erster Linie eine Angst vor Fremdbestimmung ausgelöst. Manche kommen dann kaum mehr los von Gedanken wie: Die Behörden wollen uns mit einer unnötigen Maskenpflicht gefügig machen. Wieder andere erleben das „Social Distancing“ als besonders einschneidend, weil es in die Einsamkeit führen kann: Wer hat das, zumindest im Ansatz, nicht schon selbst erlebt?
Lager
Es besteht die Gefahr, dass wir uns immer mehr voneinander entfremden und sich Lager bilden. Dass Risse quer durch alle gesellschaftlichen Milieus gehen. Was also tun? Unsere Ängste aufeinander loslassen, uns in Fanblocks organisieren und deren Kämpfe feiern? Oder als Menschen miteinander in ein echtes Gespräch gehen, zuhören und dabei die Ängste ernst nehmen?
Brücken
Damit soll hier nicht behauptet werden, dass alle Menschen jetzt nur noch angstbesetzt agieren. Im Gegenteil: Die Mehrheit steht zwischen diesen neuen Gruppierungen, vielleicht überrascht über die gewaltigen Bruchlinien. Dazu zähle ich mich auch, obwohl ich die genannten Ängste zumindest ein Stück weit selbst erlebe. Ich meine: Auf uns kommt es jetzt an, Brücken zu bauen und sich für ein demokratisches und vielfältiges Zusammenleben einzusetzen. Dabei können wir anknüpfen an die vielen solidarischen Aktionen, die in den letzten Monaten entstanden sind.
Mindset
Eine Spur in diese Richtung legte Otto Scharmer auf der GLS Jahresversammlung bereits im vergangenen Jahr. Er beschrieb das Ende alter gesellschaftlicher Polaritäten, etwa zwischen der politischen Linken und Rechten. Für die Zukunft entscheidend sei, ob wir ein „closed mindset“ oder ein „open mindset“ haben, also geschlossenes oder offenes Denken. Sind wir offen für die Komplexität der globalisierten Welt, ohne gleich zu vereinfachen und ohne für die neuen Probleme Sündenböcke zu suchen? Haben wir vielleicht sogar Spaß daran, einander trotz aller Unterschiede wertschätzend und mit einer fragenden Haltung zu begegnen? Dann geht es um „Verunsicherungsfähigkeit“ und einen Sinn für Widersprüchlichkeiten. „Sozial ist, was Vielfalt schafft“, so Wolf Lotter von „brandeins“, „…nicht Rechthaberei, sondern immer wieder neu die Frage, ob das, was man tut, das Richtige ist“. Eine solche Offenheit ist nicht mehr nur eine private Angelegenheit, sondern eine Voraussetzung für den Fortbestand unserer Demokratie.
The mind is like a parachute, it doesn’t work if it’s not open. Frank Zappa
Spaltung
Und wie bewusst ist es uns, dass es auch Profiteure der gesellschaftlichen Spaltung gibt? Akteure, die gezielt die Spaltung vorantreiben und daraus ein Geschäftsmodell entwickelt haben? Seit Corona erhalten beispielsweise einige Online-Medien immer mehr Zulauf, die sich auf Verschwörungen spezialisiert haben und damit die Angst vor Manipulation bedienen. Deren Methode ist, eine krasse Einzelperspektive heraus zu isolieren, um damit ihre Reichweite zu erhöhen, immer wieder auch mit antisemitischen und antiparlamantarischen Anspielungen. Werden sie damit konfrontiert, dass solche Anspielungen nicht akzeptabel sind, dann versuchen sie, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Sie sagen etwa: Das war gar nicht so gemeint. Oder: Das war nur eine Frage. Oder: Wir haben nur jemanden zitiert. Echte Gespräche sind auf dieser Basis nicht möglich und eine Änderung des Geschäftsmodells unwahrscheinlich, weil es ja gut läuft. Einige der Kritikpunkte von solchen Medien sind sicherlich anschlussfähig auch in Richtung der sozial-ökologischen Bewegung, etwa wenn es um die Dominanz wirtschaftlicher Interessen geht. Aber dahinter stets die immer gleichen Personengruppen auszumachen ist falsch und spaltet die Gesellschaft. Vollkommen inakzeptabel sind Antisemitismus und Rassismus. Gegenüber solchen Strategen und Profiteuren der gesellschaftlichen Spaltung hilft nur die Abgrenzung.
Widersprüche
Hier tut sich allerdings ein Widerspruch auf: Wenn es auf der einen Seite um die Offenheit für alle Positionen und Perspektiven geht, wie ist das vereinbar mit der Abgrenzung gegenüber einzelnen Personen? Ist die Aufgabe nicht vielmehr, den Rahmen für einen offenen Austausch zu schaffen, in dem sich wirklich alle einbringen können? Tun wir den Spaltern durch eine Abgrenzung nicht sogar einen Gefallen, weil sie damit eine Bühne für deren Lieblingsrolle bekommen: als Opfer eines manipulativen Machtapparates? Würde man sie damit nicht sogar in ihrem Business unterstützen?
Perspektiven
Mit solchen Fragen ringen derzeit viele Menschen, auch innerhalb der GLS Gemeinschaft. Eine verbindende und integrierende Rolle hat die Bank bereits seit über 40 Jahren. Stets nimmt sie unterschiedliche Perspektiven ein, etwa von Geldgebern und Geldnehmern, von Unternehmen und Konsumenten, oder von diversen gesellschaftlichen Gruppen. Immer wieder gelingt es ihr, Widersprüche zu integrieren. Das schafft Vertrauen. Ist die GLS Bank in dieser Rolle jetzt verstärkt gefordert, um der gesellschaftlichen Spaltung entgegen zu wirken? Wie kann sie das tun? Wo sind Abgrenzungen notwendig? Was heißt das konkret? Was steht aktuell an? Über solche Fragen wollen wir verstärkt in Austausch kommen. Denn notwendig ist „nicht mehr Rechthaberei, sondern immer wieder neu die Frage, ob das, was man tut, das Richtige ist“.
Was denkst Du dazu?
Wir freuen uns über deine Impulse, Fragen und Anmerkungen hier als Kommentar. Wir sind gespannt, was wir gemeinschaftlich bewegen können!
Herzlichen Dank für Anregungen von
Martin Kirchner „Brücken bauen zu Andersdenkenden in Zeiten von Corona“, Anders Zuhören – Tipps für Gespräche, in denen Neues entsteht
Dieter Halbach „Corona, Trauma und Demokratie“, Evolve Nr. 27
Wolf Lotter „Sozial ist, was Vielfalt schafft“, Taz.Futurzwei Nr. 14

72 Antworten zu „Mehr Zuhören, mehr Empathie – mehr Abgrenzung?“
Danke für diesen ausführlichen Artikel. Ich gehe davon aus, dass er eine Reaktion auf den Bericht in der Taz vom 08.09.20 darstellt, in dem das GLS-Konto von Ken Jebsen kritisch kommentiert wurde. Die GLS-Bank hatte auf die Anfragen der Taz nicht geantwortet. Offensichtlich wurde aber wenigstens eine Diskussion innerhalb der Bank angeregt und wir als KundInnen werden über die Haltung unserer Bank informiert.
Ich lese aus dem Artikel eine deutliche Distanzierung von Jebsen und seinen „antisemitischen und antiparlamentarischen Anspielungen“ heraus. Das freut und beruhigt mich als Kundin. Aber warum wird er nicht beim Namen genannt, wo man doch sein „Geschäftsmodell“ so präzise beschreibt? Wie sieht die Abgrenzung „gegenüber solchen Strategen und Profiteuren der gesellschaftlichen Spaltung“, die hier angedacht wird, denn in diesem konkreten Fall aus? Oder soll Ken Jebsen in den „Rahmen für einen offenen Austausch“ sogar einbezogen werden? Diese Antwort bleibt der Blog-Beitrag schuldig.
Ken Jebsen war als Redner im Mai auf der Querdenken 711 Demo in Stuttgart präsent und es ist davon auszugehen, dass diese Proteste auch von Teilen des dort ansässigen anthroposophischen Umfelds mitgetragen werden. Die Taz hat den Verdacht geäußert, dass die GLS Bank es sich mit der eigenen Klientel nicht verscherzen will. Die verschämte Umschreibung des „Systems Jebsen“ ohne Nennung des konkreten Falles lässt diese Frage weiterhin offen.
Und warum findet sich die Stellungnahme zum Taz-Artikel – und als solche lese ich diesen Beitrag – versteckt im Blog auf der GLS-Homepage? Warum wagt man nicht den öffentlichen Diskurs und positioniert sich im Rahmen eines Interviews? Ken Jebsen kann sein Konto behalten. Aber seine Bank gibt öffentlich kund, wofür sie eintritt. Wie wär’s?
Gerne konkretisiere ich das: KenFM passt aus meiner Sicht nicht zur GLS Bank, da dieses Unternehmen gezielt die gesellschaftliche Spaltung vorantreibt. Wenn es aber um die Frage geht, ein Mitglied aus einer Genossenschaftsbank auszuschließen, dann ist dies ein längerer Prozess, der nur sehr bedingt transparent gemacht werden darf. Darum kann unsere Kommunikation nicht so klar sein, wie wir das alle gerne hätten. Unsere Diskussion hier ist ein Teil des Prozesses.
Wie agiert die GLS-Bank in Bezug auf politische Organe der Rechten und dort aktive Personen, das ist doch hier die Frage, die KundInnen der Bank gerne beantwortet haben möchten. Das Thema „Perspektivwechsel und Ambiguität im Umgang mit Ansichten von Mitmenschen“ ist doch nur ein Ablenkungsmanöver. Wie sieht die Abgrenzung gegenüber Strategen und Profiteuren (Ken Jebsen) der gesellschaftlichen Spaltung und ihren Organisationen aus? Dazu sollte die Bank sich öffentlich positionieren.
Viele Grüße
Birgit Isfort
Ausgesprochen positiv finde ich an der ganzen Sache, dass sich anhand Corona zeigt, dass wir uns letztlich entscheiden müssen, ob wir unser Hauptaugenmerk auf die Sicherheit oder auf die Freiheit legen wollen. Ich hoffe, dass uns dieser Zielkonflikt auch nach Corona noch im Kopf bleiben wird.
Warum soll Freiheit in Sicherheit nicht möglich sein? Ich denke, darauf sollte unser Hauptaugenmerk liegen.
Corona ist die aktuelle Gelegenheit, voran gegangen sind andere, die zu akuten Ausbrüchen des „Entweder-Oderismus“ geführt haben, einer grassierenden Volkskrankheit unter den Bewohnen der Plato’schen Höhle.
Wenn meine Perspektive auf einen Schatten einen Kreis zeigt, kann jemand an einem anderen Platz nicht behaupten, ein Dreieck zu sehen. Wer das behauptet, ist mein Feind, denn er negiert mich. Ein Perspektivwechsel kommt nicht in Frage, ich liebe „meinen“ Standpunkt. Wer mag, kann einmal bei Ecosia nach „your perspective on reality may not be wrong“ suchen lassen und auf „Bilder“ umschalten. Da gibt es sechs in der Zweidimensionalität sich gegenseitig widersprechende Schatten eines Gegenstands.
Nur wer mindestens 12 Perspektiven zusammen nimmt, kann von sich behaupten, einigermassen nah an der Wirklichkeit zu sein.
Eine mangelnde Ambiguitätstoleranz kann dann dazu verführten, das Irritierende wegzudrücken. Es gibt aber kein „Weg“ – nirgends. Menschen wegen einer anderen politischen Meinung „aus“schliessen zu wollen ist kein Weg der Auseinandersetzung. Die Entscheidung, wie weit jemand gehen kann in der Freiheit seiner Meinung, wird nicht freihändig von Einzelnen oder Gruppen getroffen, dafür hat diese Gesellschaft Gerichte.