Die Energiebranche ist im Umbruch. Experten glauben: Das Energiesystem der Zukunft liegt auch in den Händen von Gemeinschaften von Bürger*innen.
Von Thomas Friemel, Journalist
Revolution. Zeitenwende. Transformation. Wer heute über die Energiewirtschaft redet, greift ins oberste Sprachregal. Zu Recht. Schließlich wälzt sich seit der Liberalisierung des Strommarkts 1998 und der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) 2000 kaum ein anderer Bereich der Wirtschaft derart um wie der Energiesektor. Was vielen dabei entgeht: Heimlich, still und leise verändert sich auch die Rolle der Konsument*in — weg von der Melkkuh der Stromkonzerne hin zur Produzent*in und Inhaber*in selbst erzeugter Energie. Es öffne sich eine historische Chance, „dass bisher passive Verbraucher zukünftig massenhaft zu aktiven Eigenversorgern werden können“, urteilte kürzlich das Bündnis Bürgerenergie.
Der Kunde als Prosument oder Prosumer, wie Fachleute diese neue Form aus Produzent und Konsument bezeichnen. Das ist grundsätzlich nicht neu. Laut Bundesnetzagentur gibt es derzeit knapp 1,9 Millionen Solaranlagen in Deutschland, laut Bundesverband für Solarenergie besitzen 35.000 Haushalte zusätzlich eine Batterie, mit der sie überschüssigen Strom zwischenspeichern und zum Beispiel auch für ihre Elektroautos oder ihre Wärmeversorgung nutzen können. Tendenz: stark steigend.
Befeuert wird der Trend zum Prosumer durch die Digitalisierung. Zentraler Begriff: Smart Grid, das „schlaue Netz“, an dem auch die Konzerne fieberhaft arbeiten. Das zukünftige Stromnetz soll private Haushalte, Industriebetriebe und Energieerzeuger so miteinander verbinden, dass individuell je nach Bedarf Strom zu- und abgeschaltet werden kann — und das zum jeweils günstigsten Tarif. Sogenannte SmartMeter (intelligente Stromzähler) sollen genaue Daten von Erzeugung und Verbrauch liefern. Eine gute Sache also. Wären da nicht die datenschutzrechtlichen Bedenken. Schließlich registrieren die Smart Meter exakt die individuellen Energiebedarfe im Haushalt und melden sie an den jeweiligen Versorger. „Das wollen die meisten Verbraucher aber nicht“, glaubt der Datenexperte Peter Welchering. „Sie wollen nicht über ihren Stromverbrauch in ihren häuslichen Tätigkeiten kontrolliert werden.“
Wie kann also eine Alternative aussehen? „Das Energiesystem der Zukunft liegt auch lokal in der Hand von Gemeinschaften von Bürgerinnen und Bürgern“, ist Marco Gütle überzeugt, Projektmanager beim Bündnis Bürgerenergie, zu dessen Gründungsmitgliedern auch die GLS Bank Stiftung gehört. Die Vision: „Private Energieproduzenten schließen sich zu Prosumentengemeinschaften zusammen, die sich gegenseitig unterstützen.“ Die Energie und ihre Daten in der Hand der Bürger*innen — daran arbeiten auch eine Menge Kunden*innen der GLS Bank. „Unsere Aufgabe ist es, genau solche Gemeinschaften zu unterstützen“, sagt Martina Kürig, Energieteamleiterin bei der GLS Bank. „Damit auch sie die neuen, viel besseren technischen Möglichkeiten nutzen können. Zum Wohle der Gemeinschaft.“
Die Aktivitäten sind vielfältig. Die wohl einfachste und bekannteste Form ist die der Unternehmensbeteiligung an Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energien wie zum Beispiel bei der Energiegewinnergenossenschaft in Köln: Dort haben sich bereits über 1.000 Mitglieder zusammengeschlossen, um in über 100 Solaranlagen unter anderem auf Schulen oder Unternehmen sauberen Strom zu erzeugen. Zuletzt hatte das Unternehmen auf der Crowdinvesting-Plattform der GLS innerhalb der Rekordzeit von 50 Minuten 300.000 Euro Mezzanine-Kapital für die Refinanzierung von sieben Solaranlagen eingesammelt.
Außer zum Eigentümer und Finanzierer kann man hier auch zum Stromkunden — und eben zum -lieferanten werden: Wer eine Immobilie besitzt, kann der Genossenschaft seine Dachfläche zur Verfügung stellen und bekommt ein Entgelt für ihre Nutzung. Das Unternehmen wiederum stellt dem Dacheigentümer gegen eine Miete die Solaranlage aufs Dach. Der Immobilienbesitzer kann den Strom teilweise selber nutzen und überschüssige Energie ins Netz einspeisen, wofür der Netzbetreiber die EEG-Vergütung zahlt. Alle Beteiligten sind eingebunden, das System arbeitet wirtschaftlich — ein Paradebeispiel für Prosumer.
Ein weiteres Beispiel sind natürlich die Stromrebellen der EWS Schönau. Wer hier Strom aus regenerativen Energiequellen bezieht, zahlt über den berühmten „Sonnencent“ nicht nur für den Auf- und Ausbau neuer Energieanlagen, sondern ermöglicht auch den Aufbau von „Rebellenkraft“: Wer selbst Energie erzeugen möchte, bekommt bei der EWS eine Förderung zum Aufbau von Solar- oder Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Brennstoffzellen. So wurden schon 2.700 Genossenschaftsmitglieder zu Produzenten ihres eigenen Stroms.
Die von der EWS unterstützte Genossenschaft Bürgerenergie Berlin, die derzeit um eine Beteiligung am Stromnetz der Hauptstadt kämpft, stärkt die Prosumerwende durch den sogenannten Mieterstrom. Da nicht alle Menschen in Deutschland Besitzer von Eigenheimen sind, sollen auch Mieter mit selbst produziertem Strom etwa durch eine Solaranlage auf dem Mehrfamilienhaus oder durch Balkonmodule zu Energieherstellern werden — das im Sommer 2017 verabschiedete Gesetz zum Mieterstrom ist allerdings ein bürokratisches Ungetüm und kompliziert, weshalb Mieterstrommodelle bisher noch eine Nische sind. „Wir haben bisher 530 Projekte deutschlandweit ermitteln können“, so Harald Will, Gründer und Geschäftsführer von Urbane Energie. „Damit werden rund 10.000 Wohneinheiten mit solarem Mieterstrom finanziert.“ Das Potenzial aber ist enorm.
Bis Quartiere sich energieautark versorgen, die Verbraucher auf Plattformen und durch Apps frei über selbst produzierte Energie entscheiden können — bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Einen Schub für mehr Prosumerrechte könnte es durch eine kürzlich vom EU-Parlament beschlossene EE-Richtlinie geben, die bis Mitte 2021 in nationales Recht umgesetzt werden soll: Demnach muss es allen Stromerzeugern erlaubt sein, mit einer EE-Anlage Strom selbst zu erzeugen, zu nutzen, zu speichern und zu verkaufen — frei von Abgaben, Umlagen und Gebühren. GLS Energieexperte Christian Marcks hat für diese Legislaturperiode allerdings wenig Hoffnung. „Eine bürgernahe Entscheidung in Deutschland ist noch nicht in Sicht. Bis jetzt sieht die Regierung Eigenverbrauch als Entsolidarisierung und erschwert ihn nach Kräften.“ Damit sich das ändert, müssen wir uns wohl alle gemeinsam bemühen.
buerger-energie-berlin.de
ews-schoenau.de
energiegewinner.de
Info: Über 1,5 Milliarden Euro für die Energiewende Bereits 1988 finanzierte die GLS Bank eine der ersten Windkraftanlagen Deutschlands. 1991 folgte der erste Beteiligungsfonds für Windräder in Bürgerhand. 1996 unterstützten wir die Schönauer Bürger*innen beim Kauf ihres Stromnetzes. Rund ein Drittel unserer Kredite gehen derzeit in Photovoltaik- und Windkraftanlagen, Nahwärmenetze, Speicher und andere innovative erneuerbare Energieprojekte. Alleine in den letzten zehn Jahren waren das über 1,5 Milliarden Euro.
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[green_box] Ein Artikel aus dem GLS Kundenmagazin Bankspiegel. Diesen und viele andere spannenden Artikel finden Sie im Blog. Alle Ausgaben des GLS Bankspiegel als PDF finden Sie unter: https://www.gls.de/bankspiegel/. [/green_box]
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