Energie ist knapp und teuer – also schalten wir die Atomkraftwerke einfach wieder an? Wegen der Energiekrise kommen manche zu diesem gefährlichen Kurzschluss. Atomstrom würde nicht nur eine nachhaltige Energiewende über die Legislatur hinaus verhindern. Die Debatte verstellt den Blick, dass nur ein ganzes Maßnahmenpaket zu sicherer Energieversorgung, Klimaschutz und ressourcenschonendem Verbrauch anderer Güter führt.
Ein Gastbeitrag von Klaus Mindrup und Ernst von Weizsäcker
Die absurd hohen Energiepreise in diesem Jahr haben zu gefährlicher Panik geführt. Während die Politik wegen der drohenden Engpässe zu Sparsamkeit beim Gasverbrauch aufruft, wollen viele Bürger*innen nicht nur Kosten sparen, sondern auch dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine etwas entgegensetzen und deshalb schon freiwillig weniger russisches Gas verbrennen. Doch Einschränkungen des gewohnten Komforts sind unpopulär – und plötzlich bringen einige Lobbyist*innen und Politiker*innen die Atomenergie als Lösung für drohende Energieknappheit wieder ins Gespräch. Unfug! sagen wir dazu.
Atomkraft ist nie sicher
Unter anderem betonen ihre Befürworter die Sicherheit der Atomenergie. Dabei ist die Atomkernspaltung im Kraftwerk jener in Atombomben sehr ähnlich. Atomkraft ist deshalb nicht nur dann brandgefährlich, wenn Kriegsgeschütze ein Atomkraftwerk wie das in Saporischschja in der Ukraine beschießen, wie IAEA-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi warnte. Auch ohne Krieg ist der Betrieb von Atomkraftwerken nicht sicher zu gewährleisten, in keinem Land. Das gilt für die letzten drei laufenden Atomkraftwerke in Deutschland, das gilt auch für unser Nachbarland Frankreich: Das Land erlebt gerade eine Atomkrise, weil die dortigen Meiler kaputt gehen und aufgrund der Dürre Wasser für die Kühlung fehlt. Momentan produziert weniger als die Hälfte der französischen Atomkraftwerke Strom und das Land verstromt seit Monaten zusätzlich Erdgas und importiert Strom aus Deutschland und Großbritannien. Ein anderes Beispiel: Zwei slowakische Atommeiler russischer Bauart brauchten Anfang März plötzlich dringend neue Brennelemente aus Russland.
Deutschland und andere EU-Länder haben sich nach dem Ende des Kalten Krieges von Russland abhängig gemacht, indem sie günstig fossile Brennstoffe importierten. Diesen Fehler aber durch Atomkraft zu lindern, ist der falsche Weg. Die Endlagerfrage ist immer noch ungelöst, die angebliche weltweite Renaissance der Atomkraft ohnehin ein Mythos. Laut Zahlen des World Nuclear Industry Status Report sind vor allem die Atomwaffenstaaten aktiv auf dem Feld der Atomenergie. China und Russland erzeugen Atomenergie parallel zu ihrer Atombewaffnung. Frankreich, die USA und Großbritannien haben schon lange kein Atomkraftwerk mehr im Zeit- und Kostenplan fertiggestellt.
Als schick und modern gelten auf einmal die Miniatur Reaktoren (SMR, Small Modular Reactor). Sie seien sicherer, billiger und beweglicher, heißt es. Und Bill Gates meint, die SMRs seien die idealen Freunde des Klimaschutzes, wie er in seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Wie wir die Klimakrise verhindern“ schreibt. Der weltweit anerkannte Atomkraftexperte Mycle Schneider nennt sie spöttisch „Power-Point-Reaktoren“. Billiger sind sie auch nicht. Und durch ihre Beweglichkeit sind die SMR sogar ideale Terrorwaffen.
Atomkraft lässt sich schwer mit Erneuerbaren kombinieren
Für eine nachhaltige Energieversorgung über die nächste Legislaturperiode hinaus brauchen wir viele Maßnahmen gleichzeitig – jedoch keine alten oder neuen Atomkraftwerke. Wir brauchen einen sehr raschen Ausbau erneuerbarer Energien. Ja, ihre Effizienz muss sich noch verbessern; der Preis ist hingegen kein Argument mehr. Seit der Verabschiedung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) im Jahr 2000 ist die Kilowattstunde Photovoltaik in Deutschland um den Faktor zwanzig billiger geworden, sie kostet rund fünf Cent statt einem ganzen Euro. In sonnenverwöhnten Ländern beträgt der Preissturz sogar den Faktor hundert. Bei Preisausschreiben für neue Stromerzeuger schlägt hier wie dort die Solarenergie jedes Kohlekraftwerk und jedes Atomkraftwerk.
Ein auf erneuerbaren Energien und Wasserstoff basierendes Energiesystem ist grundlegend anders aufgebaut als das bestehende fossil-nukleare System. Berechnungen des Fraunhofer ISE zeigen, dass in Deutschland ein Stromsystem aus Atomkraftwerken und Wind beziehungsweise PV gar nicht funktionieren kann, da Atomkraftwerke viel zu unflexibel sind. Sie produzieren immer Strom und können nicht kurzfristig damit aufhören, wenn Sonne und Wind gerade selbst genug davon erzeugen können. Sonnen- und Windenergie allein haben umgekehrt den Nachteil, dass Sonne und Wind nicht permanent verfügbar sind. Als Stromspeicher eignen sich moderne Lithium-Ionen-Batterien; der Rohstoff Lithium ist jedoch knapp und hat bislang schlechte Recyclingraten.
Wasserstoff für die Industrie
Grüner Wasserstoff hat diesen Nachteil nicht, hat aber eine relativ geringe Energiedichte und ist in Gegenwart von Sauerstoff explosiv. Es gibt gute technische Lösungen trotzdem Wasserstoff zu nutzen, wie zahlreiche Brennstoffzellenfahrzeuge vom Pkw bis zum Lkw zeigen. Und es gibt sogar Systeme, Wasserstoff in Häusern aus PV-Strom im sonnenreichen Sommer zu gewinnen, diesen zu speichern und im sonnenarmen Winter daraus wieder Strom und Wärme zu erzeugen. Darüber hinaus ist Wasserstoff ein wichtiger Ausgangsstoff, um chemische Folgeprodukte zu erzeugen. Dazu gehören Ammoniak und Methanol. Ammoniak ist energiereich und ein stabiler Stoff, der gut transportierbar und vielfältig einsetzbar ist. Methanol kann man durch die chemische Verbindung von grünem Wasserstoff und CO2 herstellen; es ist dann ein klimaneutraler und nicht explosiver Treibstoff.
Um die Erderwärmung abzubremsen, müssen sich die energieintensiven Industrien auf Wasserstoff umstellen. Es ist dabei nicht wichtig, woher der grüne Wasserstoff kommt – selbst erzeugt, auf dänischen Energieinseln in der Nordsee oder in sonnenreicheren Ländern. Von letzteren Wasserstoff statt Erdöl zu importieren wäre ein Schritt, den gesamten Endenergie-Verbrauch, also auch Transport, Gebäude und Industrie zu hundert Prozent auf klimaneutrale Energien umzustellen. Und dies ohne ein einziges Atomkraftwerk.
Weniger Verbrauch durch Kreislaufwirtschaft
In der Zeit des billigen Erdgases ist eine weitere für den Klimaschutz wichtige Technologieentwicklung verschlafen worden: Energieeffizienz und Kreislaufwirtschaft. In einer Kreislaufwirtschaft braucht man weniger Erzabbau, Transport und Metallschmelzen – alles sehr energieintensive Prozesse. Das in Darmstadt erfundene Passivhaus zeigt, wie sich durch die Wärmeaustauscherbelüftung die Heizungs- und Kühlungsenergie dramatisch vermindern kann. Es gibt auch Beispiele für technologische Fortschritte, die den Verbrauch nicht mindern. Die lichtelektrische Diode (LED) ist etwa zehnmal so effizient wie die Glühbirne. Die Folge der LED-Technik war jedoch immer mehr und hellere Beleuchtung. Dieser „Rebound-Effekt“ lehrt auch: Technik allein löst das Problem nicht, nur verbunden mit einer Verhaltensänderung.
Es braucht für die Energiewende weltweite Kooperation, europäische Industriekooperationsprojekte zur Sicherung der Produktion von Windkraftanlagen sowie den Neuaufbau einer PV-Industrie. Diese müssen von Anfang an auf eine neue Kreislaufwirtschaft ausgerichtet sein. Demgegenüber ist die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ein gefährlicher Irrweg, der uns davon abhält, nachhaltigere Maßnahmen zu ergreifen.
Dieser auf den ersten Blick mühsamere Weg aus vielen verschiedenen, ineinandergreifenden Maßnahmen wird sich auszahlen. Wie das EEG vor 20 Jahren wird dieser Weg Nachahmerinnen und Nachahmer auf der ganzen Welt finden, da er risikoärmer und kostengünstiger als der fossil-nukleare Weg ist und nicht auf Ausbeutung basiert. Deswegen sollte sich Deutschland für die konsequente und schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien, Effizienz und Kreislaufwirtschaft entscheiden und so Führung und Verantwortung für die Welt übernehmen.
Die Autoren
Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, geboren 1939, ist ein deutscher Naturwissenschaftler, Politiker und zählt zu den Pionieren nachhaltigen Wirtschaftens. Von 1998 bis 2005 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2012 bis 2018 Co-Präsident des Club of Rome. Er ist Honorarprofessor der Universität Freiburg. Für sein Umweltengagement ist er mehrfach ausgezeichnet worden u.a. mit dem Deutschen Umweltpreis, Großen Bundesverdienstkreuz und Theodor-Heuss-Preis. In diesem Jahr ist sein neues Buch erschienen „So reicht das nicht! Außenpolitik, neue Ökonomie, neue Aufklärung – Was die Klimakrise wirklich braucht“.
Klaus Mindrup ist Diplom-Biologe, geboren 1964, war u.a. von 2013 bis 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags und war dort u.a. Berichterstatter für das Klimaschutzgesetz. Er ist seit langem in der Genossenschaftsbewegung aktiv, u.a. war er 18 Jahre Aufsichtsrat der Berliner Wohnungsbaugenossenschaft Bremer Höhe eG, aktuell ist er u.a. Senior Associate des Klimaschutz-Thinktanks E3G in Washington DC.
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