Antje Schneeweiß macht sich auf EU-Ebene für mehr soziale Nachhaltigkeit in der Wirtschaft stark. Warum Unternehmen dem Thema soziale Nachhaltigkeitsrisiken Aufmerksamkeit schenken sollten, erklärt die Expertin im Interview.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, so steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Trotz des erklärten Anspruchs fehlt es an einem ausreichenden gesetzlichen Rahmen für die Wirtschaft in Deutschland, Europa und weltweit. Dadurch entstehen schwerwiegende Gefahren für Mensch und Umwelt. Zwar bietet das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einen ersten Ansatz: Unternehmen ab 3.000 Mitarbeitenden müssen nun die Gefahren für Mensch und Umwelt entlang ihrer Lieferketten vermeiden. Allerdings weist das Regelwerk Lücken auf – Kritiker bemängeln fehlende Verantwortung für Arbeitnehmende von Lieferanten in entfernten Ländern. Auch Umweltauflagen greifen zu kurz. Die EU-Taxonomie hat neuen Zug in die Debatte um Nachhaltigkeit gebracht, allerdings zielt die Verordnung nur auf Klima und Umwelt.
Wenn wir über Nachhaltigkeit und Risiken sprechen, denken die meisten Menschen an Umwelt und Klima. Reicht das?
Antje Schneeweiß: Mit Sicherheit nicht. Wir merken zunehmend, wie eng ökologische und soziale Risiken verbunden sind. Zum Beispiel treffen steigende Energiekosten, Heizungstausch oder E-Mobilität vor allem Menschen mit geringem Einkommen. Schon um ökologische Ziele zu erreichen, müssen wir also soziale Gegebenheiten berücksichtigen. Unabhängig davon wissen wir seit Jahrzehnten, dass gerade in langen Lieferketten Menschen häufig in ihren Rechten verletzt werden. Dies ist schon aus ethischen Gründen kritikwürdig. Zusätzlich riskieren Unternehmen Geldstrafen oder dass sich Kund*innen abwenden.
Was sind also soziale Nachhaltigkeitsrisiken?
Antje Schneeweiß: Um soziale Nachhaltigkeitsrisiken geht es immer dann, wenn Unternehmen mit ihrem Tun Menschen in ihren Rechten, ihrer Gesundheit, ihrer Freiheit gefährden. Die Grundlage für die Definition liefert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Leitprinzipien übersetzen diese für Unternehmen. Dabei sollten Unternehmen nicht nur die eigenen Mitarbeitenden berücksichtigen, sondern auch die von Lieferanten sowie Menschen in Gemeinden am Herstellungsort und Konsument*innen. So ergeben sich verschiedene Risiken je nach Perspektive.
Antje Schneeweiß unterstützt die Entwicklung einer sozialen EU-Taxonomie und leitete 2022 eine entsprechende Untergruppe auf der EU-Plattform für nachhaltige Investitionen. Sie beschäftigt sich seit Langem mit ethischen Geldanlagen, war zunächst für nachhaltige Vermögensverwaltungen sowie das Institut SÜDWIND tätig. Auch saß sie einige Jahre im Anlageausschuss der GLS Investment Management GmbH. Seit 2020 ist sie Geschäftsführerin des Arbeitskreises kirchliche Investoren.
Wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, legen wir gedanklich meist weite Strecken zurück. Welche Nachhaltigkeitsrisiken begegnen Unternehmen in ihrem Umfeld?
Antje Schneeweiß: Spontan denke ich an Reinigungsdienste, die viele Firmen beschäftigen. Auftraggeber sollten darauf achten, dass Arbeitszeiten und Bezahlung sich im gesetzlichen Rahmen bewegen. Auch in der Landwirtschaft gibt es soziale Risiken – etwa bei der Behandlung von Männern und Frauen, die bei der Ernte helfen oder den Transport der Waren übernehmen. Obwohl gesetzlich vorgeschrieben, sind Arbeitssicherheit, faire Bezahlung und ein diskriminierungsfreies Umfeld auch hierzulande nicht überall selbstverständlich.
Inwieweit stellt die aktuelle Gesetzeslage soziale Nachhaltigkeit sicher?
Antje Schneeweiß: Die UN-Leitprinzipien sind unverbindlich und müssen durch die Staaten in Rechtsform gegossen werden. In Deutschland etwa gibt es den Mindestlohn, das Antidiskriminierungsgesetz [Anm.d.Red.: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz] und das Recht auf Teilhabe. Zudem nimmt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz Unternehmen ab 3.000 (ab 2024: 1.000) Mitarbeitenden in die Verantwortung. Die EU will demnächst weitergehen und auch kleinere Unternehmen in die Pflicht nehmen. Bei weit entfernten Risiken fehlt allerdings die Haftung und es bleibt beim Appell, worunter vor allem Menschen am Anfang der Lieferketten leiden.
Dieses Interview ist ein Beitrag im “Sinnmacher”. Die aktuelle Ausgabe des GLS Bank Magazins für Geschäftskund*innen finden Sie hier zum Download:
Was wäre eine Lösung, um mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen und Risiken zu mindern?
Antje Schneeweiß: Mit der grünen EU-Taxonomie wurde eine sinnvolle Entwicklung angestoßen, um Geldströme in ökologische Projekte umzulenken. Für soziale Aktivitäten gibt es so etwas leider noch nicht. Das könnte dazu führen, dass solche Projekte vernachlässigt werden. Ein sanktionierendes Rahmenwerk zur Definition sozialer Investitionen ist genauso dringend: Wir brauchen Geld für bezahlbaren Wohnraum, aber auch für Gesundheit und Bildung – das ist auch im Hinblick auf den grünen Umbau unserer Wirtschaft existenziell.
Aus diesen Gründen haben Sie die Entwicklung einer sozialen Taxonomie angestoßen und mit einer Arbeitsgruppe im Auftrag der EU einen Bericht erarbeitet. Wie geht es weiter?
Antje Schneeweiß: Im Moment gar nicht. Der Bericht liegt seit Anfang 2022 bei der Kommission, deren Antwort ist überfällig. Aufgrund der vielen ungeklärten Fragen um die Umwelttaxonomie gibt es erheblichen Widerstand gegen eine soziale Taxonomie. Bei allem Verständnis für die Umsetzungsprobleme, mit denen viele Unternehmen kämpfen, ist dies aber kein inhaltlicher Grund gegen eine soziale Taxonomie. Letztendlich wird es darauf ankommen, wie die nächste Kommission damit umgeht.
Wenn die EU-Taxonomie in der Warteschleife hängt und das Lieferkettengesetz nicht weit genug greift – warum sollten sich Unternehmen dennoch dringend mit sozialen Nachhaltigkeitsrisiken auseinandersetzen?
Antje Schneeweiß: Es geht ja nicht nur um Sanktionen und das Ansehen eines Unternehmens. Am Ende möchte hoffentlich kein Unternehmen schuld sein, wenn Menschen in Gefahr geraten. Daher ist es wichtig, das Risiko und die Möglichkeiten zu kennen: recherchieren, wo Rohstoffe eingekauft werden, kritische Ware aus dem Angebot nehmen, mit zertifizierten Partnern zusammenarbeiten und all das transparent kommunizieren. Die Menschen werden immer sensibler und erwarten, dass die Wirtschaft Verantwortung übernimmt.
Anfang 2022 veröffentlichte die EU-Plattform für ein nachhaltiges Finanzwesen ihren finalen Bericht über die mögliche Struktur einer sozialen Taxonomie. Das Rahmenwerk soll die EU-Umwelttaxonomie ergänzen, um Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu fördern. Mithilfe von Bewertungskriterien sollen sozial nachhaltige Aktivitäten identifiziert werden, die wesentlich zu mindestens einem Sozialziel der Taxonomie beitragen und kein anderes Sozialziel wesentlich beeinträchtigen. Seitdem stagniert der Prozess.
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