Es ist 2022 – und auf einmal gelten Atomenergie und Erdgas als nachhaltige Energien. Wie konnte das passieren? Schuld ist nur: die Taxonomie. Ursprünglich eine gute Idee, um Mindeststandards für grüne Geldanlagen zu definieren, pusht diese europäische Verordnung nun leider das, was sie unbedingt verhindern wollte: Greenwashing. „Wenn ich eine Note vergeben sollte, ist es ganz klar eine 6, weil es keine 7 gibt.“
Der Notengeber ist Thomas Jorberg, Vorstandssprecher der GLS Bank, seit 1977 Banker und studierter Wirtschaftswissenschaftler. Er kennt sich mit der Materie also aus – und übt massive Kritik am Vorgehen der EU-Kommission.
„Die Taxonomie verfehlt ihr Ziel und ist in ihrer aktuellen Form Greenwashing, unwirksam und wettbewerbsverzerrend“,
lautet seine Einschätzung. Er fordert die neue Bundesregierung auf, sich entschlossen für eine Renovierung der Taxonomie einzusetzen, die in ihrer jetzigen Form unbrauchbar ist.
So jung und schon unbrauchbar?
Das Siegel für nachhaltige Geldanlagen ist noch gar nicht auf dem Markt – und schon ist es unbrauchbar? Lassen wir kurz Revue passieren, was in den vergangenen Wochen geschehen ist und wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte.
Die EU-Kommission hat ihren Textentwurf zur Taxonomie-Verordnung am Silvestertag 2021 per Mail an die Mitgliedsländer versandt – mit dem Vorschlag, Atomenergie und Gas in die Taxonomie aufzunehmen. Es entbrannte trotz der Feiertage schnell eine erregte Diskussion. Frankreich jubilierte, da es fern eines Atomausstiegs ist und für seine Energieversorgung viele alte Kraftwerke modernisieren muss. Deutschland hingegen will sicherlich nie wieder zurück zu Atomenergie, liebäugelte jedoch sehr mit der Nachhaltigkeit von Gaskraftwerken, da diese für eine Übergangszeit benötigt werden.
Vier Wochen später, am 2.2.2022, hat die EU-Kommission nun den Text für ihren Rechtsakt offiziell beschlossen. Gas und Atomenergie sind tatsächlich Bestandteile der Taxonomie geworden. Die Verordnung bescheinigt auf dem Papier, dass Investitionen in diese Technologien zu den nachhaltigen oder grünen Investitionen zählen, weil sie dabei helfen sollen, die Klimaziele der EU zu erreichen.
Wir sind falsch unterwegs
An Klimaziele denkt GLS Vorstand Jorberg bei der Taxonomie längst nicht mehr. Die europäische Politik vergibt, seiner Meinung nach, die historische Chance, ein vertrauenswürdiges Siegel als Mindeststandard für nachhaltige Geldanlagen und zukunftsweisende Investitionen zu schaffen. Bei der Bilanzpressekonferenz der GLS Bank am 1. Februar in Berlin machte er deutlich:
„Es hilft nichts, Gas- und Atomenergie grün zu deklarieren, dadurch werden sie nicht wirtschaftlicher.“
Er mahnt: „Im Moment sind wir da falsch unterwegs.“ Die Taxonomie sollte eine Definition für eine grüne Geldanlage sein. „Wenn man Kernenergie und Gas integriert, macht man genau das, was man eigentlich damit vermeiden will: Greenwashing.“
Wer nach Möglichkeiten sucht, die Taxonomie zurück auf den richtigen Weg zu bringen, sieht nicht viele Hoffnungsschimmer. Nachdem die EU-Kommission ihren eigenen Vorschlag in leicht veränderter Form beschlossen hat, tritt er automatisch in Kraft – es sei denn eine Mehrheit im EU-Parlament oder mindestens 20 EU-Länder lehnen ihn ab. Das gilt bislang jedoch als sehr unwahrscheinlich.
Was passiert in der EU?
Werden in der Folge überall in der EU neue Atom- und Gaskraftwerke entstehen, weil sie in der Taxonomie sind und somit als nachhaltige Geldanlage gelten? „Meiner Ansicht nach Nein, und das trifft sowohl auf Atomenergie als auch auf neue Gaskraftwerke zu“, sagt Thomas Jorberg. Bereits im Januar hat er sich über diesen Punkt mit einem Journalisten ausgetauscht. Die Hintergründe erläuterte er wie folgt:
„Die Taxonomie ist die Definition eines Labels für grüne Geldanlagen und ist nicht die Investitionsentscheidung. Die Taxonomie definiert, was inhaltlich eine grüne Geldanlage sein kann. Aber die Investitionsentscheidung ist noch mal ein ganz anderer Vorgang – ob das nun in einem Fonds ist, in dem das Fondsmanagement investieren muss, oder in einer Bank, in der die Bank die Kreditentscheidung treffen muss. Entschieden wird nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und nach Risikogesichtspunkten.“
Und er führte weiter aus: „Ein Atomkraftwerk ist heute betriebswirtschaftlich nicht zu betreiben: Es rechnet sich nicht unter Marktbedingungen und hat ein enormes Risiko. Bei den Gaskraftwerken hängt es jetzt von den Rahmenbedingungen ab. Wir brauchen sicherlich in der Übergangszeit der Transformation noch mehr Gaskraftwerkskapazität, um tatsächlich Kohle und Atom ausschalten zu können. Hier sind die Rahmenbedingungen entscheidend: Wird es einen Kapazitätsmarkt geben und einen Preis für die Bereitstellung von Kraftwerkskapazität? Wenn das gegeben ist, ist es auch finanzierbar. Das hat aber nichts mit der Taxonomie zu tun.
Der Anteil von grünen Geldanlagen liegt heute noch deutlich unter zehn Prozent, bei etwa sieben Prozent. 90 Prozent aller Finanzierungen gehen auch ohne Taxonomie. Wenn nur noch das finanziert werden könnte, was in der Taxonomie ist, sähe es ja um viele Technologien und Unternehmen schlecht aus. Es wird weiterhin Rüstung finanziert, weiterhin die Wirtschaft, die nicht CO2-neutral, aber für eine Übergangszeit notwendig ist. Das wiederum kann selbstverständlich nicht bedeuten, dass Technologien, die hohe Risiken beinhalten oder Schäden in der Natur anrichten, grün werden, nur weil sie in der Übergangszeit noch gebraucht werden. Das sind und bleiben keine Zukunftstechnologien.“
Taxonomie, das ist wirklich ein komplexes Thema!
[grey_box]Schau doch mal bei Johannes von Wahn & Sinn vorbei. Der hat sich ebenfalls mit der EU-Taxonomie beschäftigt und gefragt: „Was ist wirklich das Problem?“
https://youtu.be/aeFwUQsOrL8 [/grey_box]
Wir haben das Thema auch schon im November 2021 im Blog aufgegriffen. Wenn du die neue Welt der Taxonomie bereisen willst, einfach klicken.
Und wir freuen uns selbstverständlich über Kommentare!
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