Kolumne von Philip Kovce, Autor
Ich stehe in einem Supermarkt inmitten einer Shoppingmall. Hier gibt es alles. Und noch viel mehr. Es gibt jedes Produkt. Und von jedem Produkt alle Variationen. Hundertfach. Tausendfach. So sieht sie also aus, die käufliche Selbstverwirklichung: der Konsumtempel, der mich umwirbt. Doch wie sieht es wirklich aus? Was steht hinter den angepriesenen Billigwaren? Was sehe ich, wenn ich von den Werbeslogans absehe und mir die Lebenszusammenhänge der Produkte vergegenwärtige?
Ich sehe dann nicht mehr nur Produkte. Ich sehe ebenfalls Arbeitsbedingungen und Besitzverhältnisse, Menschenschicksale und Tiergeschichten. Und wo mich eben noch schiere Fülle erdrückte, da bedrückt mich jetzt die Leere. Sind wir tatsächlich nicht in der Lage, heutzutage andere Arbeitsbedingungen sicherzustellen? Andere Eigentumsstrukturen zu ermöglichen? Menschen und Tiere besser wahrzunehmen und wertzuschätzen? Wollen wir diese Fülle zum Preis jener Leere wirklich?
Ich bahne mir einen Weg durch die shoppenden Massen, welche die Sonderangebote sondieren und ihre neuesten Smartphones präsentieren. Es wird nicht miteinander geredet, sondern durcheinander. Fast jeder scheint am anderen Ende der Leitung mit irgendjemandem verbunden, dem er ausgerechnet jetzt irgendwelche weltbewegenden Neuigkeiten mitzuteilen hat. Oder von dem er sich an Ort und Stelle ohne Rücksicht auf Verluste fernsteuern lässt. Es ist ein Rempeln und Stoßen – um nicht zu sagen: ein Hauen und Stechen –, ein Sinnbild von Mangel und Überfluss, Leere und Fülle gleichermaßen: eine Kommunikationsflut, die Aufmerksamkeit und Gespräch, Ruhe und Stille unweigerlich mit sich fortreißt. Es ist ein kommunikatives Rauschen, das dem Kaufrauschkapitalismus entspricht.
Doch halt, stopp! Dies sollte keine überhebliche Früher-war-alles-besser-Kolumne werden. Vielmehr will ich eine Überforderung andeuten, die sich heute vielerorts beobachten lässt: Wir sind es jahrhundertelang gewohnt gewesen, mit Ach und Krach gegen den äußeren Mangel anzukämpfen, um über die Runden zu kommen. „Denke dran: Schaff’ Vorrat an!“ hieß es plakativ, um den nächsten Winter zu überstehen. „Fasse dich kurz!“ war die Bitte der ersten Telefonanbieter, damit die knappen Leitungen auch noch anderen zur Verfügung stehen.
Wir haben uns im Zuge der Industrialisierung vieles einfallen lassen, um den äußeren Mangel zu überwinden. Und wie wir ihn überwunden haben! Wir wissen gar nicht, wie wir damit umgehen sollen. Wir machen einfach so weiter, als wäre nichts gewesen. Wir wetteifern weiterhin um Lohn und Brot, als gäbe es nichts anderes, als ginge es nicht besser.
Kurzum: Der Überfluss überfordert uns. Er fordert von uns Gelassenheit und Großzügigkeit anstatt Gier und Geiz. Und er fordert uns auf, keinen Teufelspakt zu schließen: Denn wenn die Regale voll und die Herzen leer sind, wenn äußerer Wohlstand innere Verwahrlosung bedeutet, dann bleiben wir Gefangene unserer selbst. Dann befreit uns der Überfluss zwar vom Mangel früherer Zeiten, aber er begründet zugleich einen Mangel neuer Art: volle Leere, leere Fülle. Wir sind jeden Tag aufgerufen, diesem Teufelspakt zu widerstehen.
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