Das Auto abschaffen – (m)ein Experiment

Das Auto abschaffen – (m)ein Experiment

Ich wohne in Bielefeld. Dort hat die Stadt die Aktion „Autofrei in Bielefeld*“ ins Leben gerufen. Ich habe mich beworben – und bin dabei! Seit April bewege ich mich zusammen mit 49 anderen Menschen ganz offiziell und mit einem Budget von 400 Euro ohne Auto in der Stadt. Begonnen hat mein Experiment aber schon viel früher, denn inoffiziell habe ich mir das autofreie Leben am 1. Januar verordnet. Hier kommt mein Erfahrungsbericht.

Tag 1 – Auto abgeben

Am 1. Januar 2022 trenne ich mich von meinem Leasingauto. Der abgelaufene Vertrag hat dafür gesorgt, dass ich vor meiner offiziellen autofreien Saison bereits drei Monate lang üben kann – und auch will! Von jetzt an die ersten 90 Tage ohne Auto, auch nicht im Notfall. Experiment ist Experiment.

Tag 2 – Ich bin entspannt

Der Jahresanfang verläuft ruhig und ich bin ohne Auto ganz entspannt. Wieso habe ich eigentlich bislang gedacht, ein Auto zu brauchen? Falls die Katzen dringend zum Arzt müssen, fällt mir als erstes ein. Oder falls ich dringend dahin muss. Und natürlich für größere Einkäufe. Der Arbeitsweg war nie mein Argument, denn ich habe die Möglichkeit, vollständig von zuhause aus zu arbeiten.

Durchschnittlich knapp 35 Prozent aller Fahrten mit dem Auto sind auf den Arbeitsweg und dienstliche Fahrten zurückzuführen. Freizeitfahrten haben mit 36 Prozent einen ähnlich großen Anteil.

Tag 3 – Sorgenkind Katze

Am 3. Januar beschließt die Katze, nicht mehr zu fressen, dafür aber zu jammern. Na klar, vorher nie passiert. Was nun? Krankes Tier im ÖPNV erschien mir keine zumutbare Lösung zu sein. Also blieb nur: Sorgen machen und mit Solidaritätsbauchschmerzen warten, um mit dem E-Auto des Freundes nach Praxisschluss noch zur Tierärztin zu kommen. Ihre Diagnose schließlich: nur zu viel Luft im Bauch…

Tag 4 – Fahrrad ist platt

Am 4. Januar taucht prompt das nächste Hindernis auf: Ein Reifen an meinem Fahrrad sieht ganz schön schlapp aus. Ausgerechnet an diesem Dienstag habe ich einen wichtigen Termin in meinem sechs Kilometer entfernten Co-Working Space. In den habe ich mich eingemietet, um nach knapp drei Jahren Homeoffice wieder ein bisschen Büro-Feeling zu tanken. Mein „Arbeitsweg“ verläuft zwar entlang einer von Autos vielbefahrenen Straße, hat größtenteils aber einen eigenen komfortablen Radweg – und ich habe ausreichend Platz.

Mit meinem Platten schaffe ich es bis in die Innenstadt, wo ich mein Rad von Profis flicken lasse. Problem gelöst, Termin noch möglich, denke ich erfreut. Doch es waren weitere Mächte im Spiel…

Das Auto abschaffen – (m)ein Experiment

Am Tag darauf habe ich die Reparatur einfach selbst in die Hand genommen.

Tag 10 – Gute ÖPNV-Anbindung

Von meinem Wohnort aus ist die Innenstadt mit dem Bus im 20-Minuten-Takt zu erreichen. So gibt es also auch bei Regen keine Gründe, dass der Weg dorthin ohne Auto nicht zumutbar wäre. Als tatsächlich unzumutbar empfinde ich mittlerweile eher Dinge wie Parkplatzsuche und Geldautomatenfütterung oder Umwege, die ich machen muss, um einigermaßen staufrei in die Stadt zu kommen. Deswegen fahre ich viel und gerne Fahrrad.

Tag 19 –Ich bin genervt

Das Auto abschaffen – (m)ein Experiment

Tag 31 – Monat eins ist um

Nach meinem ersten überstandenen Monat kristallisiert sich bei mir ein Wunsch heraus. Ich möchte mein Mobilitätsverhalten von jetzt an regelmäßig hinterfragen. Was ist Gewohnheit, was Bequemlichkeit? Und gibt es die überhaupt: Notwendigkeiten? Bislang geht alles ganz gut ohne Auto.

Das Auto abschaffen – (m)ein Experiment

Tag 46: Es wird aufgestockt

Mein Radequipment vermehrt sich. Ich lege mir Regenkleidung und Schutzbleche zu, um mein Rennrad zum Gravel- und Commuter-Bike umzurüsten. Und um „trocken“ und immerhin nicht dreckig anzukommen. Ich genieße meine täglichen 20- bis 30-minütigen Radtouren und entdecke neue Podcasts, Musik und tatsächlich auch neue Gedanken!

Der Februar zeigt sich mir freundlich, mit klarer Luft und viel Sonne. Das Radeln macht so viel Spaß, dass ich nachmittags noch kurze Rennradausfahrten mache.

Tag 53: Ja, ich laufe auch

Ich trainiere für einen Marathon. Darauf durfte sich mein autofreies Experiment auf keinen Fall negativ auswirken. Doch ich würde sagen, dass sich diese beiden Dinge absolut nicht im Weg stehen. Radfahren und laufen passt wunderbar zusammen. Ende Februar verbuche ich eine neue Bestzeit im Marathon und bin mehr als glücklich.

Tag 62: Schnack mit dem Kollegen

Ich habe meinen radbegeisterten Kollegen Manuel getroffen. Er nimmt das Leasingangebot unserer Arbeitgeberin, der GLS Bank, in Anspruch und hat sich sein Wunschrad angeschafft: ein E-Mountainbike. Damit spart er im Vergleich zum Auto nicht nur Geld, sondern ist auf Strecken bis 15 Kilometer auch deutlich schneller am Ziel, sagt er.

Manuel hat sein eigenes Auto tatsächlich für das Leasingrad abgegeben. Im Notfall kann er auf Autos von Freunden zurückzugreifen, das kommt allerdings kaum vor. Im ersten Jahr mit dem E-Bike hat er schon über 3.500 km zurückgelegt. Und er erzählt mir, dass er viele Veränderungen an sich bemerkt. „Ich bewege mich insgesamt viel mehr an der frischen Luft. Anstatt Wasserkisten zu schleppen trinke ich jetzt Leitungswasser. Ich habe mein Einkaufsverhalten geändert, fahre jetzt häufiger für kleinere Mengen los und merke, dass ich dadurch weniger Lebensmittel wegwerfe als vorher.“

Regelmäßig das Rad anstelle des Autos zu nutzen senkt das Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu sterben um 24 Prozent. https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(20)30079-6/fulltext

Gibt es nichts, was Manuel nervt? Kräftigen Regen mag er nicht, wenn er Mountainbike fährt, die Schutzbleche sind zu klein. Und die Werkstatt-Police des Leasingbetreibers findet er nicht optimal. Auch für kleine Reparaturen muss er mit dem geleasten Rad zur Werkstatt und sich mit den Wartezeiten dort abfinden.

Tag 75 – Muss ich oder will ich?

Mobilitätsexpertin Katja Diehl stellt ihren Gesprächspartner*innen gerne die Frage: Wollen Sie Auto fahren oder müssen Sie?

Was würde ich an Tag 75 antworten? Weder noch.

Denn natürlich gibt es Situationen, in denen das Auto praktisch ist: zuhause einsteigen, am Ziel aus. Ohne Fußwege oder Wartezeiten. Trocken bei Regen, mit Gebläse bei Hitze.

Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass ich oft die gleiche Zeit für Wege brauche – ob ich nun ein Auto nehme oder meine multimodale ÖPNV-Rad-Fuß-Kombi anwende. UND: Im Bus kann ich lesen. Das Radfahren ist Erholung und Sport zugleich.

Bestimmt werden sich meine Ansprüche an Mobilität mit den Lebensumständen noch ändern. Will ich irgendwann mit Kindern alle Strecken zu Fuß zurücklegen? Was ist, wenn ich mir mal ein Bein breche? Oder wenn mein Job am bequemsten und schnellsten mit dem Auto zu erreichen ist?

Tag 90 – Ende und Neuanfang

Meine persönlichen drei Monate ohne Auto sind um. Jetzt starte ich in weitere drei Monate ohne Auto mit der Bielefelder Aktion. Ich freue mich darauf, denn ich merke, dass ich mich noch viel unabhängiger vom Auto machen kann.

Ich war nie eine Vielautofahrerin, die es liebt, stundenlang durch Bielefeld zu cruisen. Ich bin Bewegungsmenschin – die sportliche Person mit einem Faible fürs Laufen und Radeln. Ich weiß, dass diese Voraussetzungen das autofreie Leben auf jeden Fall leichter machen.

Dennoch glaube ich, dass jeder Mensch situationsabhängig entscheiden kann, welches Verkehrsmittel notwendig, sinnvoll und machbar ist. Vieles wird einfach schnell zur Gewohnheit, aber von Gewohnheiten kann ich mich auch wieder lösen. Es kann passieren, dass frühere Handlungsmuster plötzlich abwegig erscheinen.

Fahrt ihr regelmäßig Auto? Wenn ja, was sind eure Gründe? Was fehlt, um umzusatteln? Und ist das am 1. Juni gestartete 9-Euro-Ticket für euch ein Impuls, ein autofreies Leben einmal auszuprobieren? Ich bin gespannt auf eure Antworten und euer Feedback in den Kommentaren. Ich bleibe dabei, auf zwei anstelle von vier Rädern unterwegs zu sein.

Weitere spannende Artikel aus der GLS Mobilität.

7 Fakten über E-Mobiliät und die Frage nach den Batterien

*In Bielefeld hat es schon einmal ein ÖPNV-Modellprojekt gegeben. Darüber berichtete die taz am 1.6.2022 (https://taz.de/OePNV-Modellprojekt-in-Bielefeld/!5858616/).

  1. Petra Ferreira

    Bei mir begann das Jahr mit einer gezwungenermaßen autofreien Zeit: nach einem heftigen Fahrradsturz am 01.01. mit zwei gebrochenen Gliedmaßen (linker Arm und rechte Hand) war nicht an Autofahren zu denken.
    Ich nutzte die darauf folgende Zeit, um den schon lange im Kopf herumspukenden Gedanken, mein Auto abzuschaffen auf den Prüfstand zu heben.
    Inzwischen geht das Autofahren zwar wieder, ich bleibe aber soweit wie möglich bei den neuen Routinen: vor allem zu Fuß, da Fahrradfahren leider noch nicht wieder geht und etwas ÖPNV. Alle Fahrten mit dem Auto dokumentiere ich, um heraus zu finden, welche Alternative (Fahrrad, wenn es wieder geht, Carsharing, Bus…) jeweils am sinnvollsten ist. Das Auto kommt dieses Jahr aber weg, so der Plan!
    Herausforderung bei mir sind nicht die Katzen (der Tierarzt wäre notfalls in 30 Minuten zu Fuß zu erreichen) sondern mein Schrebergarten. Für den gibt es irgendwie immer was zu transportieren…

    • Und die Wege zum Schrebergarten legen wir mit Öffis und Hackenporsche zuruck. Da passt jede Menge rein.

  2. Wir sind als Familie auch mit dem Fahrrad, dem ÖPNV, oder der Bahn unterwegs.
    Das Auto haben wir vor mehr als zwei Jahren abgeschafft und vermissen es zu keiner Zeit.
    Allein das Geld, dass wir für die Versicherung und Steuern sparen ist schon immens. Wenn ich dazu noch das Benzingeld und die Werkstattkosten rechne, sind wir bei einem sehr hohen vierstelligen Betrag.
    Davon können wir mehrmals im Jahr in den Urlaub fahren.

  3. Christine Gerresheim

    Auch bei mir begann die autofreie Zeit mit einer Krankheit, aber es war ein Desaster. Möchte ich nie wieder haben! Jeder hält die Hand auf für kleine Gefälligkeitswege, Einkaufen unmöglich oder doppelt so teuer, Fahrrad war nicht möglich, öffentliche Verkehrsmittel gibt es hier nicht, obwohl wir uns fortschrittlich nennen und Taxifahrten bei den weiten Wegen hier unbezahlbar.

  4. Nazdrow76

    Da wäre das örtliche Autohaus in Wil aber erschrocken! Mutiges Experiment. Oft lässt man sich aber dennoch abschrecken sowas selbst zu machen, weil das Auto dann doch oft mal hier und da notwendig ist. Das mit dem öffentlichen Autoverleih ist leider noch nicht gut genug ausgebaut.

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