Zukunftsreise: „Demokratie schafft Zufriedenheit“

Schwerpunktthema | Wir machen Zukunft

Selbst in Krisenzeiten haben wir die Möglichkeit Zukunft zu gestalten. Dafür müssen wir sie uns jedoch erst einmal vorstellen. Zu ihrem 50. Geburtstag macht die GLS Bank deshalb, was sie seit ihrer Gründung tut: nach vorn schauen. In diesem Teil unserer Zukunftsreise trifft GLS Wegbegleiterin Claudine Nierth die fiktive Journalistin Liliana Morgentau im Jahr 2045 in Berlin: Eine Solarbootsfahrt im Jahr 2045 durchs Berliner Regierungsviertel.

Autorin: Liliana Morgentau*

Zukunftsreisende Claudine Nierth ist 2024 Vorstandssprecherinvon Mehr Demokratie sowie Sprecherin des Aufsichtsrats der GLS Treuhand.

Ein Frühlingstag im Mai 2045 hat sich mit Sonnenfäden über die Berliner Spree gewebt. Am Ufer bin ich mit der 78-jährigen Claudine Nierth verabredet, früher Vorstandssprecherin von „Mehr Demokratie“. Wir steigen in ein Solarschiff – und los geht die Fahrt durchs Regierungsviertel vorbei Richtung Osten. Früher galt Berlin als „Metropole der schlechten Laune“, heute sehe ich am Ufer viele Menschen lächeln. „Demokratie ist das Versprechen größtmöglicher Zufriedenheit“, sagt Claudine Nierth. „Eine Atmosphäre des Friedens und der Langsamkeit, in der alle Menschen unbeschwert lächeln können.“ Sie lauscht: Nichts ist zu hören als Vogelgezwitscher, das Rauschen des Wassers, ab und zu leise Gespräche. „Momente der Zufriedenheit.

Tür weit offen

Aus dem verwilderten Tiergarten taucht das Bundespräsidialamt auf. Wie hat sich die Beziehung der Bevölkerung zur Politik verändert? „Früher residierte hier das Staatsoberhaupt, eingezäunt und abgeschottet“, erzählt sie. „Heute ist die Tür offen, die Menschen haben Zugang und eine Verbindung zum Präsidententeam.“ Es sei mittlerweile Standard, Führungsposten mit mindestens zwei Menschen zu besetzen, meist mit einer Frau und einem Mann, die sich die Aufgaben teilen.

Unglaublich. Wie kam dieser Wandel zustande? „Ausgelöst durch einen evolutionären Sprung”, sagt Claudine Nierth. „Krisen entstehen, wenn ein Entwicklungsschritt ansteht, aber nicht gemacht wird.“ Sie schaut über die Reling, Sonnenkringel bemalen den Wasserspiegel. „Ich erinnere mich gut an die Krisenstimmung Mitte der 2020er Jahre“, fährt sie fort. „Uns Menschen treibt eine evolutionäre Veränderungskraft. Der politische Lockdown 2030 ermöglichte die Transformation.“ Der was? „Damals gab es heftige Krisen und Unruhen. Bis der damalige Bundeskanzler eine sechsmonatige politische Pause verordnete, in der keine Gesetze gemacht wurden. Es war eine Zäsur. Nichts sollte weitergehen wie bisher. Politiker hörten der Bevölkerung nur zu. Überall gab es Bürgerforen, welche die Politik berieten. Aus diesen Räumen entstand die Metamorphose der Politik.“

Liliana Morgentau ist Protagonistin des Bildbands „Zukunftsbilder 2045″ von Stella Schaller, Ute Scheub, Sebastian Vollmar und Lino Zeddies. Die fiktive Journalistin beschreibt, wie der ökosoziale Wandel gelang. Zum Geburtstag der GLS Bank hat das Team von Reinventing Society Liliana Morgentau nach Berlin geschickt. Das Buch GLS Treuhand e.V. gefordert.

Mehr Zukunftsbilder gibt es im Bildband „Zukunftsbilder 2045“ von Reinventing Society, so wie hier der Johannisplatz in Leipzig in 2045.//© Reinventing Society

Brücken zwischen Parlament und Bürgerschaft

Fast geräuschlos gleitet unser Solarschiff dahin. Rechts tauchen die Streben des Kanzlergartens auf, der das Bundeskanzleramt verlängert und – nun begrünt – das „Bürgerforum“ beherbergt. Das Forum ist seit Fertigstellung 2031 zum Symbol der demokratischen Erneuerung geworden, erfahre ich. Dort tagen zufällig ausgeloste Bürgergremien, die die Politik beraten. „Man könnte das Bürgerforum auch Raum der Resonanz nennen“, sagt Claudine Nierth. „Es bildet Brücken zwischen Parlament und Bürgerschaft. Jedes Bundesland hat so ein Bürgerforum. Auch Städte und Gemeinden lassen sich von kleinen Foren beraten.“ Sie schweigt einen Moment und fügt dann hinzu: „Es geht im Bürgerforum selten laut zu. Niemand versucht andere zu übertönen. Hier wird vor allem zugehört.“ Auch das Regierungstandem, das im Kanzleramt mit einem größeren Team regiere, komme regelmäßig ins Bürgerforum und höre zu.

Wir passieren den Spreebogen. Linker Hand sehe ich den Hauptbahnhof, rechter Hand eine ausgedehnte Wildblumen- und Streuobstwiese vor Kanzleramt und Parlament. Familien schaukeln in Hängematten zwischen blühenden Apfelbäumen. „Sehen Sie dahinter das vielfarbige Gebäude mit dem Dachgarten?“, fragt Claudine Nierth. „Das ist das Haus des Vertrauens.“ Es bildet einen auffälligen Gegensatz zu den benachbarten Politbauten der 2000er Jahre und besteht aus Holz, Lehm und klimafreundlichen Naturmaterialien. „Und aus Vertrauen,“ fügt sie schmunzelnd hinzu.

Ich wusste nicht, dass Vertrauen ein Baustoff ist, lache ich. „Der wichtigste Baustoff der Demokratie“, antwortet Claudine Nierth. Im Haus des Vertrauens gehe es um den gesellschaftlichen Umgang mit Gefühlen. „Sie beeinflussen politische Entscheidungen oft stärker als sachliche Argumente. Angst, Wut, Hoffnungslosigkeit wurden früher gern von Populisten missbraucht. Heute dürfen die kollektiven Sorgen und Nöte hier Platz nehmen, sie werden in zahlreichen Veranstaltungen angehört. Vorbild für die Einrichtung war die Wahrheitskommission, die in Südafrika nach Ende des Apartheid-Regimes entstand.

Mir fallen Zeitungsberichte aus den 2020ern über Deutschland ein, Ängste, mit dem erstarkenden Rechtspopulismus könne sich die Nazi-Vergangenheit wiederholen. Doch nach dem politischen Lockdown festigte sich die Demokratie durch eine starke Bürgerbeteiligung. Der Rechtspopulismus verlor an Kraft und wurde zu einer Stimme unter vielen. Im Haus des Vertrauens wurden Ausgrenzung thematisiert und mit Raum für Versöhnung überwunden. „Hier durfte endlich alles ausgesprochen und reflektiert werden“, erklärt Claudine Nierth. „Spaltung und Verletzung, aber auch Unterdrückung und Enttäuschung wurden hier aufgearbeitet. So konnten wir einander neu begegnen und verstehen, dass hier Frust integriert werden wollte, aber anders als durch Hass und Remigrations-Fantasien. Heute wissen wir, dass die Wut durch Fremdbestimmung zustande kam und nicht durch Fremde.“

Ich bleibe skeptisch. Das klingt alles zu idyllisch. Was ist aus den Geflüchteten geworden, die seit 2015 kamen? Haben auch sie Platz im Haus des Vertrauens finden können? „Natürlich. Wenn eine Gruppe mit Angst konfrontiert ist, braucht es einen Raum der Anteilnahme. Professionelle Moderationsteams gestalten Prozesse,  sodass sich alle in Ruhe aussprechen können, Ängste abbauen und gemeinsam Lösungen entwickeln.“

Das Schiff gleitet auf den Reichstag zu. „Früher war das Parlament ein Inbegriff des Reformstaus“, sagt sie. „Aber es ist gelungen, es in ein Kraftwerk zu verwandeln, in dem mit Leichtigkeit Innovationen beschlossen werden: Unabhängige Moderatorenteams organisieren komplexe Gesetzesprozesse für die Abgeordneten. Der Fraktionszwang ist überholt, die Parteizugehörigkeit spielt nur bei der Wahl eine Rolle. Jetzt sind alle frei und bringen sich in moderierte Prozesse ein. Die übergreifenden Diskussionen führen zu Lösungen und Gesetzesvorhaben. Das Parlament arbeitet schnell und effektiv.“

Fließen die Ergebnisse aus Bürgerforum und Haus des Vertrauens hier ein? Ja, bestätigt Claudine Nierth. Die heutige Demokratie habe drei Säulen. Erstens: Die Bevölkerung wähle Menschen ins Parlament, die ihre Interessen vertreten. Zweitens: Die parlamentarische Arbeit werde ergänzt durch Volksabstimmungen. Drittens gebe es die Beratung durch Bürgerräte. „Den Dreiklang haben wir von Irland abgeschaut. Dort beriet ein von der Regierung eingesetzter Bürgerrat ein Jahr lang öffentlich über polarisierende Fragen von Abtreibung und Homo-Ehe. Anschließend entschied die Bevölkerung darüber 2019 positiv in einem Referendum. Dieser Dreiklang hat auch bei uns große Konflikte befriedet und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt.“

Hinter dem Reichstag legt das Solarboot an. Unsere Fahrt ist zu Ende. Eine letzte Frage, Frau Nierth: Sind Sie mit 78 Jahren immer noch aktiv? Sie lächelt. „Solange ich lebe, fühle ich mich mitverantwortlich für die Demokratie. Bis irgendwann mal jeder Mensch auf dieser Erde zufrieden lächelt.“

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