Meine Kollegin Anne Bechmann und ich hatten das Glück, mit Dr. Stefan Dreesmann, einem Experten für ökologische Landwirtschaft und einem Kenner der Ukraine, über die aktuelle Situation in dem osteuropäischen Land zu sprechen. Auf der einen Seite werden dort Ackerflächen durch Bomben oder Umweltverschmutzungen zerstört, Millionen Tonnen Weizen stecken fest und wichtige Lebensmittelgüter können die Ukraine nicht verlassen. Auf der anderen Seite schaffen es die Landwirt*innen, die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu sichern und die Aussaat für die nächste Ernte auszubringen.
Gespräch mit Agrarwissenschaftler Dr. Stefan Dreesmann | Teil 1
Stefan Dreesmann lebt in Bochum und in Norddrebber, einem Dorf nördlich von Hannover. Der 62-Jährige beschäftigt sich seit früher Jugend mit Osteuropa und ist beruflich in den letzten Jahren häufig in die Ukraine gereist. Er leitet aktuell das Projekt „Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau“, kurz COA. Das Projekt wird durch das Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. Mit der Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS Treuhand startete er im März die Nothilfe Ukraine Ökolandbau, die in Not geratenen ukrainischen Bio-Betrieben helfen will*.
Hallo Herr Dreesmann, schön, Sie in Bochum in der GLS Bank begrüßen zu können!
Danke für Ihre Einladung, ich freue mich sehr.
Es ist Ende Juni, der Krieg dauert nun bereits vier Monate. Wann waren Sie das letzte Mal in der Ukraine?
Ich war bis ein paar Tage vor Beginn des Krieges in der Ukraine in Kiew und bin am 11. Februar mit dem Flugzeug zurückgeflogen nach Köln.
Ihre Rückkehr erfolgte dreizehn Tage vor Kriegsausbruch. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Ich habe meinen Freunden, meiner Familie in Deutschland immer versichert: Wenn mir das Bauchgefühl sagt, jetzt wird es Zeit, aufzubrechen, dann breche ich auf.
Ich habe stetig die Nachrichten verfolgt, war den ganzen Januar bis Mitte Februar in Kiew gewesen. Am Anfang habe ich die Situation so eingeschätzt, dass ich bis Mitte Februar bleibe, dann wäre ich für kurze Zeit nach Deutschland zurückgeflogen, um dann wieder regulär in unser Büro in der ukrainischen Industrie- und Handelskammer zurückzukehren. In Kiew herrschte normales Leben, Kiew ist eine bewegte Stadt.
Aber die Meldungen wurden immer bedrohlicher, es wurde vom Aufmarsch der russischen Armee berichtet, dass sie immer näher an die russische und weißrussische Grenze vorrückte. Irgendwann dachte ich, jetzt könnte der Punkt sein, an dem es vielleicht doch zum Krieg kommt. Zu achtzig Prozent glaubte ich nicht daran, zu zwanzig doch. In der Summe hat mich das bewogen, meinen Flug am 15.2. zu canceln und vier Tage früher zu fliegen. Am Tag darauf hat die Bundesregierung die höchste Reisewarnung für die Ukraine ausgesprochen. Da saß ich bereits am Frühstückstisch zuhause in Bochum. Freunde riefen an und fragten: Wo bist du? Da waren sie beruhigt.
Wie ist Ihre Verbundenheit mit dem Land entstanden?
Die Verbundenheit fing bei mir schon mit Kindesbeinen an. Als Jugendlicher hatte ich großes Interesse an Osteuropa, geschichtlich, historisch gesehen. Der Zweite Weltkrieg, die Verantwortung Deutschlands, das interessierte mich sehr. Ich war mit der Aktion Sühnezeichen anderthalb Jahre im Ausland, auch längere Zeit in Polen. Das hat mich geprägt, das war die Basis.
Ich war seit Mitte der 1980er Jahre immer wieder in Osteuropa in vielen Staaten unterwegs, in den Jahren 2010, 2011, 2012 mehrmals in Russland, in Moskau. Zudem war ich in der Hilfe für die Kinder von Tschernobyl aktiv, u.a. direkt vor Ort in Belarus. Ich wollte Osteuropa nicht nur historisch begreifen, sondern die Menschen kennenlernen, die Natur. Und ich wollte gerne auf die Krim. 2013 bin ich mit meiner Familie dorthin gefahren, in den Jahren danach haben meine Lebensgefährtin und ich noch mehrere längere Urlaube in der Ukraine gemacht. Die Maidan-Proteste, die Ende 2013 in Kiew begannen, haben mich ebenfalls sehr geprägt. Schließlich hielt ich mich ab 2016 auch beruflich immer wieder in dem Land auf – als sogenannter Kurzzeitexperte für das erste COA-Projekt. Ich bekam einen klaren Eindruck von der Ukraine. Als ich gefragt wurde, ob ich für die zweite Phase als Projektleiter agieren würde, habe ich nicht lange überlegt.
Sie leiten also seit 2021 die „Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau“. Was wird im Rahmen dieses Projekts bewegt?
COA ist ein Projekt des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Das BMEL, abgekürzt, hat verschiedenste bilaterale Kooperationsprojekte in der ganzen Welt, die es finanziert, davon fünf in der Ukraine. Der erste Baustein in unserem Projekt ist die institutionelle Förderung des ökologischen Landbaus in der Ukraine. Das heißt, man hat dort ein Gesetz zum ökologischen Landbau entwickelt, das auch sehr eng angelehnt ist an die europäische Verordnung zum ökologischen Landbau. Unser Projekt hat diesen Prozess der Gesetzgebung unterstützt und ist dabei, die Umsetzung des Gesetzes aktiv mit zu begleiten. Da ich 20 Jahre im Landwirtschaftsministerium in Niedersachsen genau solche Dinge gemacht habe, kann ich mein Wissen entsprechend einbringen.
Baustein 2 ist ebenso interessant: Im ersten Projekt wurde eine digitale Plattform zum ökologischen Landbau entwickelt, die als Website bei einer ukrainischen Bildungsbehörde angedockt ist. Die Seite wird jetzt mehr und mehr gefüllt mit wissenschaftlichen Artikeln zum ökologischen Landbau. Wir unterstützen das durch Kurzzeitexperten in der Ukraine, durch Übersetzung von Artikeln und die Weiterentwicklung der Plattform.
Baustein 3 will die verschiedensten Akteure des ökologischen Landbaus in der Ukraine unterstützen, in ihrer Arbeit und in der Zusammenarbeit untereinander. Was bedeutet das konkret? Wir unterstützen die Veranstaltungen der Verbände aktiv, fördern Messen zum ökologischen Landbau, begleiten wissenschaftliche Kongresse oder führen Fortbildungen durch, zum Bespiel zur Ernährung mit ökologisch erzeugtem Obst und Gemüse in der Schule. So setzen wir Impulse in die sehr rege Szene.
Apropos rege Szene: Wie groß ist denn die Ökolandbau-Bewegung in der Ukraine?
Der ökologische Landbau hat sich in der Ukraine besonders in den letzten zehn Jahren stark entwickelt. Es gibt dort einige Betriebe, die direkt nach dem Unabhängigkeitsreferendum 1991 mit der ökologischen Bewirtschaftung begonnen haben, es gab dafür aber eben nie ein Gesetz. Die zertifizierten Betriebe in der Ukraine arbeiten derzeit alle nach den Vorgaben der EU-Verordnung für den ökologischen Landbau. Mittlerweile sind das so 520, vielleicht 530 Betriebe, die EU-zertifiziert sind – Stand vor dem Krieg. Flächenmäßig sprechen wir von etwa 500.000 Hektar Ökolandbau.
Es gibt eine ganze Reihe kleine und mittlere Betriebe, aber auch ein paar große. Das Ganze hat sich – wie in Europa – insbesondere aus der Landwirtschaft und der aktiven Umweltbewegung heraus entwickelt, angestoßen von Personen, die großes Interesse daran hatten und sensibilisiert waren, auch durch negative Umwelteinwirkungen, Stichwort Tschernobyl. Das Interesse an dieser nachhaltigen Form der Landwirtschaft hat sich über mehrere Jahre entwickelt.
In der Ukraine gibt es zum einen zwei größere Organisationen: die Organic Ukraine und die Organic Federation of Ukraine. Zum anderen entwickeln sich zwei kleinere Organisationen, beide sind echte „Graswurzel-Bewegungen“: Das ist Biodynamika Ukraine, also die explizit biologisch-dynamische Landwirtschaft – das sind vielleicht so 20 Betriebe im Augenblick. Die andere Organisation, Permakultur, existiert seit 2012. Sie praktiziert und vertritt auf ihren Höfen und in Seminaren diese Form der Landbewirtschaftung, teilweise auch biologisch-dynamisch, mit Einflüssen der EcoVillage-Bewegung.
Alle vier genannten Organisationen sind eigenständig, von Aktiven aus und in der Ukraine gegründet, und teilweise gut vernetzt mit Partner-Organisationen in der EU.
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Wie schätzen Sie das Wachstum ein? Ökologische Landbau-Entwicklungen gehen häufig schnell und mit großer Begeisterung los. Ist die Bewegung von Dauer?
Die Ukraine hat ungefähr 42 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche, und von denen sind ungefähr, wie schon erwähnt, knapp 500.000 Hektar ökologisch bewirtschaftet. Das ist etwa ein Prozent. Die Ukraine hat aber letztes Jahr per Dekret festgelegt, dass in den nächsten Jahren der Ökolandbau auf drei Prozent wachsen soll. Das heißt: 1,5 Millionen Hektar. Das ist schon ein Ziel, das sich sehen lassen kann.
[green_box]Zum Vergleich: In Deutschland wirtschafteten Ende 2021 rund 35.700 Betriebe auf knapp 1,8 Millionen Hektar nach den Vorgaben des ökologischen Landbaus. Der Anteil ökologisch bewirtschafteter Flächen an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche beträgt knapp 11 Prozent. Quelle: https://www.thuenen.de/de/thema/oekologischer-landbau/aktuelle-trends-der-deutschen-oekobranche/oekolandbau-in-zahlen/[/green_box]
Durch die intensive Zusammenarbeit mit den zuständigen ukrainischen Ministerien und den Regierungsvertretern erleben wir, dass die ökologische Landwirtschaft stetig an Bedeutung gewinnt und von der Politik als ein zunehmend wichtiges Thema angesehen und unterstützt wird. Das gilt auch für die Beschäftigung mit der „Farm to Fork“-Strategie der EU. Letztere wurde in den vergangenen anderthalb Jahren sehr intensiv in der Ukraine von der Umweltbewegung und der Politik diskutiert.
Welche Rolle spielt die Ukraine als Bio-Rohstofflieferant auf dem Weltmarkt? Hat sich diese Rolle seit 2016, seitdem Sie für die COA-Projekte tätig sind, verändert?
Mit dem Wachstum des Ökolandbaus weltweit und der Erweiterung des Angebotsspektrums hat die Ukraine ihre Rolle als Bio-Rohstofflieferant erweitert. Das Land liefert nicht nur Getreide, Soja und Sonnenblumen, es kommen auch mehr und mehr andere Produkte auf den Markt wie etwa verschiedene Arten von Obst (Himbeeren, Erdbeeren, Blaubeeren) oder verarbeitete Produkte wie zum Beispiel Sonnenblumenöl.
Der größte Teil der in der Ukraine produzierten Ökoprodukte wird in die EU exportiert, etwa 70 Prozent, der Rest verteilt sich auf die USA und Asien. Der Export in die EU stagniert zwar seit etwa zwei Jahren, meine These dazu ist, dass der Ökolandbau, vor allem der regionale ökologische Anbau, natürlich auch in der EU gewachsen ist und auch in der EU ein wachsendes Angebot vorhanden ist. Aber in Summe spielt die Ukraine für die Versorgung mit Rohstoffen aus ökologischem Landbau eine große Rolle in der EU. Sie ist der größte Exporteur von Bio-Getreide in die EU.
Zu Beginn des Krieges tauchte früh die Frage auf, ob Bio-Produkte weiter exportiert oder vornehmlich zur Versorgung der Menschen im Land genutzt werden sollten. Inzwischen wissen wir, dass viele Biohöfe weiterhin großes Interesse daran haben, ihre zum Teil noch aus der Ernte des letzten Jahres vorhandenen Bio-Erzeugnisse zu exportieren. Ein wichtiger Grund dafür ist die Sicherung der Liquidität ihrer Betriebe, so dass sie weiter ökologisch wirtschaften können. Viele ökologische Betriebe benötigen jetzt also unsere umfangreiche Unterstützung. Das wissen wir besonders durch die vielen Anträge im Rahmen der „Nothilfe Ökolandbau Ukraine“ der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, die uns von Biohöfen aus der Ukraine erreicht haben.*
Stichwort weiter wirtschaften: Wissen Sie, wie es insgesamt mit der Aussaat für die neue Ernte aussieht, auch im konventionellen Bereich?
Konventionell oder Bio, alle Landwirt*innen stehen seit Kriegsbeginn vor den gleichen Problemen. In diesem Frühjahr sind auf 14 Millionen Hektar sogenannte Sommerkulturen wie Mais, Sonnenblumen oder Sommergetreide ausgesät worden. Auf drei Millionen Hektar konnte die Aussaat aus unterschiedlichen Gründen nicht erfolgen – weil sie im Kampfgebiet lagen oder noch liegen, weil Männer und Frauen aus den landwirtschaftlichen Betrieben in der ukrainischen Armee kämpfen oder in der Territorialen Verteidigung, weil Treibstoffe fehlen oder weil Flächen vermint sind.
Aber: Maßgebliche Mengen sind ausgesät worden, das haben die Ukrainer*innen geschafft, dass war und ist schon bewundernswert. Die Landwirtschaftsbetriebe waren gerade in den ersten Kriegswochen von großer Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung. Viele haben ihre Produkte nicht mehr für die Supermärkte, sondern für die Bevölkerung direkt in der Region zur Verfügung gestellt. Oder andersherum: Plötzlich boten große Supermarktketten nicht mehr nur die Produkte von großen und bekannten Marken an – oft werden sie aus der EU importiert –, sondern auch die regionalen aus dem eigenen Land.
Stay tuned! – In der kommenden Woche veröffentlichen wir Teil 2 des Gesprächs mit vielen Einblicken und Informationen, wie sich die monatelangen Kriegshandlungen auf die Landwirtschaft in der Ukraine auswirken.
[grey_box]Seine persönlichen Eindrücke zu Kriegsbeginn und in den darauf folgenden Wochen, in denen es vor allem um die Sicherheit von Mitarbeiter*innen in der Ukraine ging, hat Stefan Dreesmann aufgeschrieben. Unter dem Titel „Von Kiew nach Norddrebber: Der Krieg in der Ukraine ist nicht weit entfernt“ könnt ihr diesen Text bei uns auf dem GLS Blog lesen.[/grey_box]
*Ihr möchtet helfen? – Nothilfe Ukraine Ökolandbau
Die Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS Treuhand setzt sich für den Ökolandbau Ukraine ein. Die Lage für rund 400 Biobetriebe ist schwierig. Auf den ukrainischen Höfen sind viele Flüchtlinge angekommen, die versorgt werden müssen. Für die Traktoren mangelt es jedoch an Diesel und manchmal fehlt auch das Saatgut. Jede Hilfe in Form einer Spende ist willkommen. Die Stiftung hat durch das Projekt „Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau“ einen direkten und vertrauenswürdigen Kontakt zur Biolandbau-Bewegung in der Ukraine.
Hier könnt Ihr den 2. Teil lesen:
Ökolandbau in der Ukraine: Was macht der Krieg mit der Landwirtschaft?
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