Norddrebber, 24. Februar 2022, 4:45 Uhr. Ich wache auf, schalte mein Handy an und sehe im Netz, was gerade begonnen hat: Russland greift von Norden bis Süden die gesamte Ukraine an. Ich schalte das Fernsehen ein und sehe die ersten Bilder. Auf dem Bildschirm die Blitze von Raketen, die im noch dunklen Kiew einschlagen.
Persönliche Eindrücke von Agrarwissenschaftler Dr. Stefan Dreesmann
Noch vor wenigen Tagen war ich dort, mitten in der Stadt, 500 Meter entfernt vom Maidan. Seit April letzten Jahres arbeite ich in Kiew und leite dort ein internationales Projekt im Bereich des Ökologischen Landbaus, finanziert von der deutschen Bundesregierung. Kiew ist eine pulsierende Großstadt, viele nennen es das neue Berlin. Ich habe es auch so empfunden und mich dort sehr wohl gefühlt. Bis Mitte Februar war ich den größten Teil der Zeit in Kiew und in der Ukraine, eine kleinere Zeit im Homeoffice in meinem Zuhause in Norddrebber. Im Homeoffice war ich online immer mit den Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen in der Ukraine verbunden.
Europäische Geschichte auf Schritt und Tritt
In den letzten Jahren waren meine Lebensgefährtin und ich mehrmals im Urlaub in der Ukraine und haben das Land im Westen und im Süden bereist: mehrtägige Wanderungen auf der Hochebene der Karpaten, mit dem Kajak auf dem zweitlängsten Fluss der Ukraine, dem Dnister, oder Reisen entlang der gesamten Schwarzmeerküste von Odessa durch Bessarabien bis zur rumänischen Grenze. Nicht zu vergessen der Besuch vieler historischer Städte wie Kiew, Lviv oder Czernowitz. Europäische Geschichte auf Schritt und Tritt.
Ein Land geprägt durch den „Euromaidan“ des Jahres 2014, der „Revolution der Würde“ und des „demokratischen Aufbruchs Richtung Westen“. Und seit dem Jahr 2014 durch die Besetzung der Krim und den Krieg im Osten, der permanenten Provokationen und Angriffe seitens Russlands.
1,4 Millionen Menschen sind bereits 2014 aus dem Donbass und von der Krim geflüchtet und hatten seitdem in Behelfsunterkünften überall in der Ukraine Unterkunft gefunden. Wenn wir durch die Ukraine reisten, sah man überall die Gedenksteine an die Gefallenen im Donbass und die darauf wehenden blau-gelben ukrainischen Fahnen. Ein Krieg, der in Deutschland zu der Zeit kaum noch wahrgenommen wurde.
Nun also Krieg im ganzen Land!
Und ich saß am 24. Februar frühmorgens vor dem Fernseher und dachte daran, was nun als nächstes zu tun ist. Zu 80 Prozent hatte ich vermutet, dass Putin die Ukraine nicht angreifen wird, zu 20 Prozent hatte ich das für möglich gehalten. Diese 20 Prozent hatten mich dazu bewogen, früher als gedacht Mitte Februar aus Kiew abzureisen. Aber fast alle Angestellten der Behörden und Organisationen, die wir im Rahmen des Projektes unterstützen, waren am 24. Februar noch in Kiew.
Ich öffnete also wieder mein Handy und nahm über verschiedene soziale Medien sofort Kontakt zu allen auf. Was für eine Erleichterung, dass alle sofort reagierten und zum Glück niemandem etwas passiert war. Alle berichteten von lauten Detonationen, von Flugzeugen, die über Wohnblocks flogen, von Raketen, die sie sahen oder irgendwo in Kiew einschlugen. Erst Wochen später erfuhr ich, dass an diesem ersten Tag des Krieges nur wenige hundert Meter entfernt vom Wohnhaus einer meiner Mitarbeiter*innen eine Rakete eingeschlagen hatte. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.
Sicherheit steht im Vordergrund
Seit dem 24. Februar hat sich das Leben in der Welt radikal geändert. Was viele nicht für möglich gehalten haben, ist eingetreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa und keiner weiß, wie lange er dauern wird und welche Ausweitung noch bevorsteht. Es herrscht unendliches Leid in der Ukraine. Von einem auf den anderen Tag hatte sich auch der Alltag unseres und der anderen deutschen Projekte in der Ukraine geändert. In Vordergrund stand nun zuallererst die Sicherheit der Mitarbeiter*innen und Partnerorganisationen in der Ukraine.
Einige von ihnen sind sofort oder in den kommenden Tagen mit dem Auto oder dem Zug aus Kiew aufgebrochen, um über die Grenze in die EU zu gelangen. Manche haben dafür vier Tage gebraucht. Andere, ebenfalls mit Auto oder Zug, fuhren aus Kiew heraus, um sich auf dem Land oder in Städten im Westen der Ukraine in Sicherheit zu bringen. Und eine weitere Gruppe lehnte es strikt ab, Kiew zu verlassen, um dort notfalls ihre Stadt zu verteidigen. Mit allen waren und sind wir als Projektverantwortliche in stetigem Kontakt, helfen und unterstützen sie, wo wir können und erleben mit ihnen täglich den grauenhaften Alltag des Krieges.
Alltag unter dramatischen Umständen
Der Alltag in vielen Städten in der Ukraine heißt seitdem: fast täglich Bombenalarm, Unsicherheit, ob es sich wirklich um einen Raketenangriff handelt, oft tagelanges Verbringen im Bunker, Organisieren des täglichen Lebens unter diesen dramatischen Umständen, tatsächliche Lebensmittelknappheit. Und: Kontakthalten über tägliche Videokonferenzen und soziale Medien (zum Glück funktioniert das Internet reibungslos), Mut machen, zusammen weinen und lachen, Hilfe organisieren. Nicht nur einmal merkte jemand während der Videokonferenzen an, dass gerade Raketen gesichtet wurden oder Detonationen in unmittelbarer Nähe zu hören waren. Kaum auszuhalten auch die verzweifelten Berichte über Verwandte der Mitarbeiter*innen, die in den durch die russische Armee besetzten Gebieten leben und nicht mehr aus ihnen herauskamen.
Mut, Optimismus, Solidarität, Widerstand
Es klingt vielleicht etwas pathetisch, aber ich empfinde es tatsächlich so: Die Ukrainer*innen verteidigen in diesem Krieg nicht nur ihre, sondern auch unsere Freiheit und unsere gemeinsame Kultur. Ich bewundere sie dafür. Für ihren Mut, für ihren Optimismus, für ihre Organisationsfähigkeit, für ihre Solidarität untereinander und für ihren enormen und ungebrochenen Widerstand.
Ich erlebe das seit Beginn des Krieges bei allen Menschen, mit denen ich in der Ukraine in Kontakt bin. Jeder tut was er kann an seiner Stelle, um die Ukraine zu verteidigen und das alltägliche Leben so gut es geht aufrecht zu erhalten. Dazu gehören auch die Bilder, die mich von ihnen erreichen, auch wenn sie nicht so recht zum Krieg passen: Cafés, die wieder öffnen, Blumen, die gepflanzt werden, Marktstände, die auf den Straßen Gemüse verkaufen. Der Lebenswille in der Ukraine ist trotz der Grausamkeit des Krieges ungebrochen.
Hilfe für die Menschen in der Ukraine
Unser Projekt und die anderen aus Deutschland geförderten Projekte in der Ukraine haben seit Beginn des Krieges gemeinsam damit begonnen, Hilfe für die Menschen in der Ukraine zu organisieren. Sei es über die Hilfe groß angelegter Lebensmittelspenden deutscher (Handels-)Unternehmen oder durch spezielle Unterstützungsmaßnahmen für die Landwirtschaft. Oder im Kleinen für besonders betroffene Institutionen. Beispielsweise durch Hilfe für eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte im Westen Kiews, mit der unsere Projekte zusammenarbeiten und deren gesamtes umfangreiches technisches Inventar während der Besetzung durch russische Soldaten geraubt oder zerstört wurde. Letztes Jahr im Juli konnte ich mir die hervorragende Ausstattung dieses Zentrums vor Ort anschauen. Jetzt ist durch blanke Zerstörung und durch Raub nichts mehr davon übrig. Der Ort liegt zwei Orte entfernt von Butscha, in dem russische Soldaten während der Besetzung im März und April hunderte Zivilisten ermordet haben.
Dieses Beispiel zeigt noch einmal deutlich, welchen Herausforderungen sich die Ukraine im Krieg zu stellen hat. Hoffen wir, dass dieser Krieg endlich bald zum Stehen kommt und dass die Ukraine wieder in Frieden leben und ihr Land selbstbestimmt weiter entwickeln kann. Gerne möchte ich dann wieder zwischen Norddrebber und Kiew pendeln und dort unser Projekt mit den ukrainischen Mitarbeiter*innen vor Ort weiter fortsetzen.
Dr. Stefan Dreesmann, 28. April 2022
Über die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Medien in Osteuropa berichten wir in diesem Blogbeitrag:
Unabhängige Medien: Ukraine-Krieg zeigt Bedarf an faktenbasierten Informationen
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