Ein junger Mann sucht Gemüse im Supermarkt aus.

Jetzt nachhaltig handeln: Die Preislüge im Supermarkt

Lebensmittel müssten noch sehr viel teurer sein, wenn man die versteckten Kosten einberechnet. Erste Händler trauen sich das schon.

Von Katrin Saft

Kaffeeshop-Betreiber Henning Reiche bietet das Kilo kolumbianischen Röstkaffee für 32,99 Euro an. Das klingt irrsinnig teuer. Kostet doch die gleiche Menge bei Tchibo oder Jacobs weniger als die Hälfte – trotz auch dort spürbar gestiegener Preise. Im Unterschied zu den Kaffeekonzernen sind bei Reiche aber nicht nur die Produktionskosten, sondern auch die ökologischen und sozialen Kosten im Kilopreis enthalten – zum Beispiel 24 Cent für Luftverschmutzung, 15 Cent für Landnutzung, 5 Cent für Wasserverschmutzung, 10 Cent für den Klimawandel, 1,32 Euro für den Export. Mit seiner 2021 gegründeten Marke Truesday ist Reiche ein Pionier in Deutschland. „Der Wert des Kaffees orientiert sich bei uns nicht an den Rohstoffbörsen, sondern an den realen Auswirkungen des Anbaus auf Mensch und Natur“, sagt er.

Ein Kaffeefeld wird bearbeitet.

Reiche gehört damit bundesweit zu den Ersten, die deutlich über bisherige Standards wie Bio oder Fairtrade hinausgehen. Sie setzen sich für einen neuen Nachhaltigkeitsstandard ein, der die wahren Kosten von Lebensmitteln abbildet. „Im Supermarkt zahlen wir heute nur einen Teil der Rechnung. Denn die Art und Weise, wie wir Lebensmittel erzeugen, verteilen, verkaufen und konsumieren, verursacht beträchtliche Schäden“, sagt Alexander Müller, Direktor der TMG, einer Denkfabrik für Nachhaltigkeit.

Die Folgekosten stehen auf keinem Preisschild: zum Beispiel für Schäden durch Bodenerosion, Überdüngung, Süßwasserverbrauch, Wasserverschmutzung, den Verlust von Artenvielfalt und die Abholzung tropischer Wälder. Hinzu kommen die Kosten für Gesundheitsschäden durch Stickoxide, Feinstaub und Treibhausgase sowie für soziale Schäden wie schlechte Arbeitsbedingungen. „Die versteckten Kosten der Lebensmittelproduktion werden weltweit auf 10 Billionen Dollar geschätzt – jährlich“, sagt Müller, der viele Jahre Staatssekretär im Bundesernährungsministerium war.

Die Preislüge – Wir zahlen alle mit

Für einen Teil dieser Schäden zahlen wir heute schon auf indirekten Wegen mit: beispielsweise in Form von Abgaben für Leitungswasser, die auch die Kosten für die Reinigung von Pestiziden beinhalten; in Form von Steuern für die Umweltsanierung nach Überschwemmungen und Dürre oder in Form von Krankenkassenbeiträgen. Die meisten Kosten allerdings werden einfach verlagert: auf die Natur, auf Menschen in Regionen, die weit von der Quelle des Problems entfernt leben oder auf nachfolgende Generationen. Insofern mehren sich Forderungen nach einem grundlegenden Wandel des globalen Ernährungssystems. Müller: „Es muss eine Neudefinition des Werts von Lebensmitteln geben, indem die versteckten Kosten gemessen, bewertet und in die Preise integriert werden.“

Nach groben UN-Schätzungen müssten Lebensmittel im Schnitt etwa ein Drittel teurer sein, wenn die wichtigsten Umweltauswirkungen in die Marktpreise einfließen würden. Zwar verspricht der aktuelle Koalitionsvertrag, dass ökologische und soziale Werte in bestehende Rechnungsstandards integriert werden sollen. Doch wie viele Euro ist zum Beispiel Biodiversität bezogen auf ein einzelnes Produkt wert? Schon seit mehreren Jahren versuchen sich verschiedene Initiativen und Organisationen an Rechenmodellen – am sogenannten True Cost Accounting (Berechnung der wahren Kosten), kurz TCA.

Bio-Obst ist günstiger

Der Bio-Obst- und Gemüsehändler Eosta hat bereits 2017 in Holland und Deutschland begonnen, die Prinzipien des True Cost Accounting anzuwenden. „Wenn wir die Auswirkungen auf Klima, Boden und Wasser in Rechnung stellen, dann liegt der Kostenvorteil unserer Bio-Birnen gegenüber konventionellen Früchten bei 2.290 Euro pro Hektar Obstplantage und Jahr“, erklärte Firmenchef Volker Engelsmann im Interview mit der Frankfurter Rundschau. Pro Kilo sei sein Bio-Obst in Wahrheit damit 5,7 Cent günstiger als das konventionelle. Im Laden allerdings ist Bio teurer. Insofern, argumentiert die gemeinnützige Organisation True Price, ermögliche True Cost Accounting endlich auch faire Wettbewerbsbedingungen. Denn heute werden Landwirte, die mehr fürs Ökosystem tun, oft bestraft – mit höheren Kosten, die der Kaufpreis nicht immer deckt.

True Price mit Sitz in Amsterdam unterhält eine eigene Datenbank, in der die wahren Lebensmittelkosten erfasst werden sollen. 2020 hat in Hollands Hauptstadt der weltweit erste True Price Store eröffnet. Und seit Februar bietet auch das Deloitte-Büro The Edge in Amsterdam Kaffee und Tee nach der Methode an. Für die Berechnung werden acht ökologische und soziale Auswirkungen berücksichtigt: Klimawandel, Wasserverbrauch, Landnutzung, Luft-, Wasserverschmutzung, Verbrauch knapper Materialien, Kinderarbeit und Armut. Die Mehrkosten reichen je nach Getränk von wenigen Cent bis knapp 1 Euro und können freiwillig bezahlt werden.

Je tierischer, desto teurer

In Deutschland haben Wissenschaftler der Universität Augsburg in einer Studie mit großen Lebensmittelhändlern versucht, die negativen Auswirkungen von Stickstoff, Klimagasen, Energieeinsatz und Landnutzungsänderung monetär zu bewerten. Ergebnis: Je tierischer, desto höher die externen Kosten. Und je natürlicher der Stoffkreislauf, desto geringer die Umweltfolgeschäden. Insofern schnitten Bioprodukte auch in dieser Studie günstiger ab. Je nach Lebensmittel kamen Preisaufschläge zwischen vier Prozent für Bioäpfel und 173 Prozent für konventionell erzeugtes Fleisch heraus. Gouda müsste 88 Prozent, Milch sogar 122 Prozent teurer sein.

Viel ist Greenwashing

Dabei wurden bei dieser Rechnung Kriterien wie soziale Folgekosten noch nicht mal berücksichtigt. „Problem ist, dass es zwar viele wissenschaftliche Bemühungen, aber keinen einheitlichen Standard gibt, welche Indikatoren wie bis auf die Produktebene angewendet werden können“, sagt Alexander Müller. Da passiere auch viel Greenwashing.

Deshalb haben sich Unternehmen, NGOs, Wirtschaftsprüfer und Wissenschaftler zur Initiative True Cost zusammengeschlossen und in mehrjähriger Arbeit ein technisches Handbuch entwickelt. Es enthält 16 Indikatoren, anhand derer die Umwelt-, sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen eines Produktes gemessen und monetär bewertet werden können. „Dafür war es nötig, die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten“, sagt Müller. Pilotfirmen wie Hipp hätten dazu ihre Daten zur Verfügung gestellt.

Mithilfe des im Netz frei verfügbaren Handbuchs können Landwirtschafts- und Lebensmittelunternehmen in einem ersten Schritt die Folgen ihrer Tätigkeit messen und optimieren. Finanzinstituten ermöglicht das Werk, die Nachhaltigkeit von Unternehmen zu vergleichen. „So können wir zum Beispiel Kredite gezielt an Unternehmen vergeben, die positive Effekte für die Umwelt generieren“, sagt Timo Hülsdünker von der GLS-Bank, die sich als erste sozialökologisch wirtschaftende Bank Deutschlands bezeichnet.

Bis die wahren Kosten auch im Supermarkt ausgewiesen werden, ist es aber noch ein weiter Weg. „Die Methode muss wissenschaftlich weiter entwickelt werden“, sagt Müller. Auch dürften die Kosten für die Berechnung nicht höher als die für das Produkt ausfallen. Hinzu kommt, dass der neue Standard angesichts ohnehin steigender Preise bei vielen Kunden auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte. Müller: „Es geht aber nicht darum, Lebensmittel noch teurer zu machen. Sie sind schon teurer – nur sieht man das jetzt noch nicht.“ Nötig sei ein Bewusstseinswandel auf allen Ebenen. Unternehmen sollten verpflichtet werden, Folgekosten in ihren Bilanzen auszuweisen. Agrarsubventionen müssten umgelenkt werden.

Nicht wettbewerbsfähig

So wie einst die ersten Bioläden eine Revolution waren, hoffen die Pioniere der True-Cost-Bewegung, dass in absehbarer Zeit immer mehr Händler und Restaurants die wahren Kosten ausweisen. Kaffeeshop-Betreiber Henning Reiche gibt die ökologischen und sozialen Kosten seines Kaffees an die Farmer in den Anbaugebieten zurück. Dass er dadurch mit seinen Preisen nicht wettbewerbsfähig ist, weiß er sehr wohl. „Ein noch ungelöstes Problem“, sagt er. „Aber global gesehen kommen wir um ehrlichere Preise nicht herum.“

Dieser Artikel wurde am 27. September 2022 in der Sächsischen Zeitung bzw. auf www.sächsische.de veröffentlicht.

Was haltet ihr von den “wahren Kosten” oder der Preislüge? Unterstützt ihr die Initiative der True-Cost-Bewegung? Seid ihr für mehr Durchblick im Supermarkt?

Bei uns im Blog könnt ihr dazu passend lesen, warum ein Bioapfel in Wahrheit günstiger ist als die konventionelle Alternative. Kleiner Teaser: “Wenn es uns gelingt, Kostenwahrheit herbeizuführen, kannst du in den Supermarkt gehen und deine Äpfel guten Gewissens einfach anhand des niedrigsten Preises auswählen.”

Kostenwahrheit: Warum ein Bioapfel in Wahrheit günstig ist

  1. Was mich als Leser interessiert, ist wo diese zusätzlichen Kosten für Luftverschmutzung und Erosion die im Kaffeepreis enthalten sind verwendet werden.
    Wer kriegt das Geld?
    Was hat die Kaffeebäuerin davon?

    Gibt es dazu Informationen?
    Danke
    Urs
    #DrKPIpagetracker

  2. Michael Kallweitt

    Ich habe frage mich, an wen Herr Reiche seinen Kaffee verkaufen möchte. Gehören nur Wohlhabende dazu oder auch ehemals Normal- und inzwischen Geringverdienende, die sich in diesen Tagen ohnehin mit steigenden Wohn- und Lebenshaltungskosten konfrontiert sehen? Für das Problem eines fairen Ausgleichs müssen m.E. andere Finanzierungs- und Ausgleichsmodelle gefunden werden.

  3. Michael Knoche

    Ja, was haben wir, was hat das Klima davon, wenn wir freiwillig oder gezwungen einen True oder real cost Preis bezahlen? Kompensieren wir damit die Umweltschäden?
    Oder schaffen wir damit tatsächlich einen fairen Wettbewerb? Ich glaube der Wettbewerb an sich produziert diese Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Wer zahlt den „echten“ Preis und wer bekommt ihn? Wer bekommt das Geld und kann damit eine falsche Produktionsweise überhaupt verändert werden? Wie soll eine Umwelt- und Sozialzerstörerische Wirtschaft überhaupt die Schäden ersetzen, die sie verursacht? Die Weisheit der Hopis scheint vergessen: Dass man Geld nicht essen kann.

  4. Für mich ist dieser Artikel,
    der subtile Versuch den Verbrauchern also letztendlich uns allen die Preissteigerung plausibel und akzeptierbar zu erklären.

    Leider ist er meiner Meinung nach nur allzu oberflächlich recherchieren und geschrieben!
    Nimmt man sich einmal die vier Positionen zumachen die Mehrausgaben gerade etwas mehr als 5% aus.
    Wer stopft sich also mit den restlichen rund 95% (31,28€) die Taschen voll?
    Klar!
    Die Verkäufer müssen leben
    Die Transporteure müssen leben
    Die Kaffeeröstereien mit ihren Angestellten
    Wiederum die Transporteure
    Die Plantagenbesitzer und deren Angestellte

    Ihnen allen sei es von Herzen gegönnt ihren Anteil zu bekommen!
    Aber mal offen und ehrlich!
    Sind die (An) Teile gerecht verteilt?
    Oder sitzen da vielleicht noch Geldgeber, Banken oder einfach Geld-Geier, die den Hals nicht voll kriegen, dazwischen? Und sich vielleicht den Löwenanteil unter die Nägel reißen?

    Ich weiß es nicht!
    Ich bin zwar leidenschaftlicher Kaffeetrinker,
    aber ich kenne das Café Business nicht gut genug,
    um mir hier ein abschließendes Urteil bilden zu können.

    Für mich ist Fakt, dass es sehr wohl notwendig ist, von der konventionellen Lebensmittel Erzeugung umzusteigen auf “Bio”!
    Aber Achtung! Bio ist nicht gleich Bio,
    Auch hier gibt es leider schwarze Schafe, die den Wunsch der Verbraucher,
    nachhaltige Produkte zu erwerben, schamlos monetär ausnutzen.

    Es wäre doch außerordentlich interessant, die Gesamtkosten Aufschlüsselung zu sehen!
    Wer bekommt wie viel!

  5. Hoch interessant. Frage: Warum verlangt man denn nicht von Herrn Thönnies oder den Grosshändlern die stets steigenden Einnahmen zum Ausgleich der Umweltbelastung zu verwenden?
    Glaubt man im Kapitalismus tatsächlich, der Preis regelt alles? Auch die Umwelt? Das ist unfassbar, sowas auf einem Blog einer “sozialen” Bank zu lesen. Es ist Zynismus pur!

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