Für die Agrarwende fehlt es an Menschen, die in der Ökolandwirtschaft arbeiten wollen, um Monokulturen und der Marktmacht großer Lebensmittelkonzerne konkret etwas entgegenzusetzen. Ein Berliner Start-up will mit einem visionären Ansatz den Betrieb von vielen kleinen Gemüsebetrieben ermöglichen.
Von Jan Abele
Große Veränderungen beginnen oft im Kleinen. Und hier, auf einem halben Hektar brandenburgischer Agrarfläche, rund 80 Kilometer östlich von Berlin, soll so ein Anfang gemacht werden. Wenn man den Betreibern des Gemüsefelds zuhört, das aussieht, als sei es mit einem Lineal gezogen, geht es hier um nichts weniger als die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft. In mehreren Beetreihen, allesamt exakt im selben Abstand voneinander, wächst ökologisch erzeugtes Gartengemüse, das nach seiner Ernte in verschiedenen Biosupermärkten in Berlin in den Regalen vorliegen wird. Auch einige Schulen lassen sich von hier aus mit tagesfrischen Erzeugnissen beliefern. Insgesamt reicht die Anbaufläche für etwa 50.000 Stück Gemüse im Jahr. Das klingt, mit Verlaub gesagt, noch nicht nach Revolution.
Darauf angesprochen reagieren Tobias Leiber und Jacob Fels, als hätten sie auf diese Bemerkung geradezu gewartet. Die beiden Gründer von Tiny Farms, zu Deutsch „winzige Bauernhöfe“, kennen sich seit Langem über ihre politische Arbeit bei den Grünen. „Für uns ist das Unternehmen Tiny Farms auch Teil der Agrarwende und damit ein politisches Projekt“, sagt Leiber. Er betont, dass gerade in der überschaubaren Anbaufläche die Antwort auf die massiven Strukturprobleme in der Landwirtschaft liegt. „Wer heute einen Betrieb bewirtschaftet, kann nur durch konsequentes Wachstum am Markt bleiben.“ Der studierte Agrarwissenschaftler wuchs selbst auf einem Bauernhof auf und weiß, was das herrschende „Wachse-oder-weiche-Prinzip“ anrichtet: „Je größer der Hof, desto größer das Risiko, der Kapitalbedarf und letztlich die Belastung für den Landwirt.“ Lange Arbeitstage, Urlaub nur im Winter, geringes Einkommen. „Wir müssen auch in der Landwirtschaft über neue Arbeitsmodelle nachdenken, sonst hat dieser Beruf keine Zukunft.“ In der Tat finden heute immer weniger Höfe noch einen Nachfolger, mittlerweile entfallen auf fünf Prozent der größten Höfe mehr als 40 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche. Das bedeutet auch: wachsende Monokulturen, schwindende Biodiversität und lange Transportwege für die Erzeugnisse, die an den Bedürfnissen regionaler Märkte vorbeigehen. Gleichzeitig diktieren die großen Lebensmittelkonzerne durch ihre Marktmacht, was angebaut wird. Auch deshalb dominiert in Brandenburg der Getreide- und Kartoffelanbau.
Wie aber kann eine auf kleine Erträge ausgerichtete ökologische Landwirtschaft heute überhaupt konkurrenzfähig sein? „Unser Ansatz ist die digitale Vernetzung vieler kleiner Betriebe zu einer virtuellen Großfarm, die auch eine hohe Nachfrage befriedigen kann“, erklärt Fels. Der Kern von Tiny Farms ist eine Standardisierung der Anbaufläche. In jahrelanger Tüftelei haben die beiden Gründer etwa den optimalen Abstand der einzelnen Beetreihen zueinander entwickelt, um Aussaat und Ernte durch günstige Laufwege zu erleichtern, sie haben einen genauen Katalog an wenigen, aber umso effektiveren Geräten zusammengestellt und eine Software entwickelt, mit deren Hilfe gerade Laien Anbau und Ernte bewerkstelligen können. Und diese Laien sind tatsächlich die Zielgruppe von Tiny Farms: Menschen mit Freude am Gärtnern, für die die Einstiegshürden in die Landwirtschaft zu hoch sind — sei es, weil ihnen Ausbildung oder Kapital fehlen oder weil sie noch ein Leben neben Aussaat und Ernte führen wollen. Fels und Leiber selbst leben beide mit ihren Familien in Berlin — eine Tiny Farm kann auch mal ein Wochenende allein gelassen werden.
Die Idee für Tiny Farms kam den beiden, als der Berliner Senat beschloss, mehr Geld in die Verpflegung der Grundschüler zu stecken: 50 Prozent des Mittagessens sollen zukünftig aus Biolebensmitteln bestehen. „Eigentlich eine gute Sache“, sagt Fels, „allerdings kann die Nachfrage an Biogemüse aus Brandenburg nur zu acht Prozent befriedigt werden.“ Und selbst, wenn der Wille der Brandenburger Landwirte da wäre: Der Erwerbsgemüseanbau leidet unter einem enormen Fachkräftemangel. „Um dem entgegenzutreten, haben wir eine Akademie gegründet“, erzählt Fels. Ein halbes Jahr lernen hier Laien, wie professioneller, ökologischer Gemüseanbau funktioniert, der für den Markt produziert. „Das Ganze ist nicht gedacht als Hobby für Großstädter — unser Konzept ist darauf ausgelegt, dass man davon leben kann.“
Wie zukunftsfähig die Idee ist, lässt sich auch dem Weltagrarbericht entnehmen: Ein Mosaik aus kleineren Ackerflächen führt nicht nur zu einer stark erhöhten Artenvielfalt in Agrarlandschaften, sondern gleichzeitig senken kleine Agrarbetriebe auch die Hürden der Existenzgründung. „Im globalen Süden oder in Asien spielt die kleinbäuerliche Landwirtschaft eine viel größere Rolle als in Deutschland“, erklärt Fels. „Daher bieten eine Vernetzung und eine Zusammenarbeit von Mikrofarmen auch global wichtige ökonomische, ökologische und soziale Vorteile.“ Die Gründer stehen mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kontakt, um zu beraten, unter welchen Voraussetzungen das Konzept auch in anderen Regionen der Welt angewendet werden kann.
Tiny Farms
Das Start-up entwickelt sein Konzept auf zwei 0,5 Hektar großen Anbauflächen in Steinhöfel bei Fürstenwalde in Brandenburg und plant für diese Saison den Einstieg in die überregionale Erprobung des Modells. Es hat eine Förderung durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erhalten. Die GLS Bank und die GLS Treuhand engagieren sich mit Krediten.
tinyfarms.de
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