Mit dem 24. Februar hat sich in der Ukraine von einem Tag auf den anderen alles geändert. Im Februar war es noch kalt, es lag viel Schnee in weiten Teilen des Landes. In der Landwirtschaft stand die Frühjahrsaussaat bevor – mit einer zentralen Frage: Was geht jetzt überhaupt noch?
Gespräch mit Agrarwissenschaftler Dr. Stefan Dreesmann / Teil 2
Stefan Dreesmann lebt in Bochum und in Norddrebber, einem Dorf nördlich von Hannover. Der 62-Jährige beschäftigt sich seit früher Jugend mit Osteuropa und ist beruflich in den letzten Jahren häufig in die Ukraine gereist. Er leitet aktuell das Projekt „Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau“, kurz COA. Das Projekt wird durch das Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. Mit der Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS Treuhand startete er im März die Nothilfe Ukraine Ökolandbau, die in Not geratenen ukrainischen Bio-Betrieben helfen will*.
In Teil 1 erklärt er, wie es den Biohöfen in der Ukraine geht. Unser Titelbild (© Stefan Dreesmann) zeigt den höchsten Berg in der Ukraine, den Howerla.
Herr Dreesmann, wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Bäuer*innen und Landwirt*innen in der Ukraine ein? Was hat sich durch den Krieg verändert?
Im Rückblick auf die vergangenen drei Monate erhält man verschiedene Bilder, je nachdem welches Gebiet man betrachtet.
Da ist erstens die Landwirtschaft, die in den Gebieten wirtschaftet, die bis heute von der russischen Armee besetzt sind. Was wir aus der Presse, von anderen Organisationen, aus dem Ministerium hören, ist, dass Russland massiv versucht, die Produkte, die dort erzeugt worden sind, für den eigenen Markt zu entwenden. Zudem ist dort nach den bisher bekannten Informationen das Ausmaß der Zerstörung extrem.
Dann gibt es die Flächen, die von der russischen Armee besetzt waren, teilweise vom 24. Februar an bis etwa Anfang April. Dort ist die landwirtschaftliche Produktion während dieser Zeit zum Teil zum Erliegen gekommen, durch die Besetzung und die ebenfalls immense Zerstörung. Man hat generell den Eindruck, dass sich die russische Armee die Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur zum Ziel gesetzt hat. Um das Land zu zermürben, um die Ernährungsgrundlage zu zerstören und den Export zum Erliegen zu bringen. In den inzwischen wieder freien Gebieten war die Situation teilweise dramatisch, weil zum Beispiel auf riesigen Farmen die Tiere nicht mehr versorgt werden konnten, die Geräte zerstört sind und so weiter. Dann fällt es sehr schwer, die Frühjahrsaussaat auszubringen. Zumal viele Flächen mit militärischem Gerät befahren oder zerbombt wurden und dort teilweise Minen liegen.
Eine dritte Gruppe von Flächen liegt in den Gebieten, die nicht besetzt gewesen sind, in denen die Landwirt*innen mehr oder minder weiter wirtschaften konnten – natürlich immer in der Sorge, ob Flugzeuge auftauchen oder Raketenangriffe bevorstehen. Aber die Ukrainer*innen haben es geschafft, ihre Flächen durchgängig zu bewirtschaften. Ich staune, mit welchem Mut sie das geschafft haben, mit welchem Erfindungsreichtum! Sie haben die Aussaat – ich habe ja die Zahlen genannt (siehe Gespräch Teil 1) – sehr gut bewältigt. Vor dem Hintergrund der bewussten Infrastruktur-Zerstörung, der Einberufung vieler Mitarbeiter an die Front, der Flucht vieler Menschen und der völlig ungenügenden Kraftstoffversorgung. Denn die russische Armee hat auch bewusst Raffinerien im Land angegriffen.
Mein Fazit: Unter diesen Rahmenbedingungen ist es großartig, was dort geleistet worden ist und weiter geleistet wird, um die Landwirtschaft aufrechterhalten zu können und die Bevölkerung und die Flüchtlinge zu versorgen.
Was denken Sie, welche weiteren Auswirkungen der Krieg auf die Landwirtschaft und die natürlichen Ressourcen in der Ukraine haben wird? Welche Langzeitfolgen erwarten Sie für die Bodenqualität und die Bodenfruchtbarkeit?
Vorweg zwei Bemerkungen. Erstens: Die Ukraine ist eines der Länder mit den fruchtbarsten Böden auf der Welt. Ich bin selbst viel gereist, war im letzten Jahr zweimal im Osten. Diese Schwarzerde-Böden sind wirklich bemerkenswert! Das Land hat hervorragende Grundlagen für die Landwirtschaft und für eine nachhaltige und gesunde Produktion von Lebensmitteln.
Zweitens: Keiner weiß, was in nächster Zeit passieren wird. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass es in kürzester Zeit endlich zum Stillstand des Krieges kommt, damit das Leiden in der Ukraine aufhört. In diesem Krieg geht es aber um die Freiheit, die Eigenständigkeit eines Landes, die Eigenständigkeit der eigenen Kultur. Das sehen alle Ukrainer*innen mittlerweile so, ich kenne keine Ausnahme. Insofern kann man vielleicht auch verstehen, das ist jedenfalls meine Interpretation, warum gerade auch im Bereich der Landwirtschaft so stark versucht wird, weiter zu wirtschaften, weiter die Flächen zu betreiben. Weil man seine Eigenständigkeit bewahren will. Weil man sein eigenes Land verteidigen will. Und dazu gehört auch die landwirtschaftliche Produktion.
Zu den Auswirkungen des Krieges: Alle Ministerien haben vom ersten Tag des Krieges an weitergearbeitet. Es gibt jetzt schon Initiativen und Papiere der ukrainischen Regierung, die sich mit der Zukunft der Landwirtschaft nach dem Krieg beschäftigen. Das ist eine Antwort auf Ihre Frage. Eine zweite liegt in der Thematik, ob die Ukraine in die EU aufgenommen wird. Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass der Ukraine diese Perspektive inzwischen gegeben wurde. Ich habe es selbst mitbekommen, wie schnell die erforderlichen Papiere für die Europäische Kommission zusammengestellt wurden – darin enthalten war ein Baustein Ökologischer Landbau, bei dem wir unterstützen konnten.
Was die Langzeitfolgen für die Bodenqualität und Bodenfruchtbarkeit anbelangt: Für das Land, das von Panzern befahren, mit Kampfstoffen oder Minen kontaminiert ist, existieren bereits Überlegungen, wie man diese Probleme bewältigen kann. Die Schäden müssen registriert werden, auch mit Hilfe von Fachleuten aus der EU. Die Ukrainer*innen stellen sich diesen Herausforderungen bereits. Sie haben den unbedingten Willen, dass es nach dem Krieg weitergeht, dass sie ihr Land wieder aufbauen.
Was sagen Sie zu den Millionen Tonnen Getreide, die in der Ukraine festsitzen?
Die vertrackte Situation ist in den Medien ausführlich geschildert worden. Ich kann bestätigen, dass sich noch viel Getreide in der Ukraine befindet. Es muss aus dem Land transportiert werden, vornehmlich in die EU, bevor die neue Ernte kommt. Darauf muss der Fokus liegen. Meiner Ansicht nach wird bereits viel dafür getan, das Getreide schnellstmöglich über den Straßen- und Schienenweg in die EU zu bringen.
Sie vernetzen sich in Ihrem Projekt COA auch mit den Organisationen Permakultur und EcoVillages, zwei Bewegungen, die sich stark mit Resilienz und Autarkie beschäftigen. In der Ukraine müssen derzeit vor allem Geflüchtete aufgenommen und versorgt werden. Stellen die beiden Bewegungen hier ihre Resilienzfähigkeit unter Beweis?
Wenn man sich anschaut, wie viele Menschen geflüchtet oder unterwegs sind in der Ukraine – das ist unglaublich! Ich habe vor kurzem gelesen, dass mehr als acht Millionen Menschen die Grenzen zu den benachbarten Ländern in Folge des Krieges überschritten haben. Neben den Ukrainer*innen, die vor der russischen Armee in die EU geflüchtet sind, gibt es viele, die in andere Teile des Landes oder aus den größeren Städten aufs Land – auch zu Verwandten – geflüchtet sind. Es gibt eine starke dörfliche Struktur und zum Beispiel auch die Tradition der Datschen, also der Grundstücke auf dem Land mit Garten- oder Wochenendhäuschen.
Die Permakultur- und EcoVillage-Dorfbewohner*innen haben sofort damit begonnen, in ihren Häusern Unterkünfte für die Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine bereitzustellen. Rund 70 Höfe haben Schlafplätze und Verpflegung angeboten und über 2.500 Flüchtlinge aufgenommen. Diese Unterstützung wurde aus dem Selbstversorgungsverständnis heraus weiterentwickelt, weitergedacht. Denn was machen die Flüchtlinge, wenn sie nicht mehr nach Hause zurückkönnen? Die Dorfgemeinschaften sind nun also dabei, ihre Häuser auszubauen. Dafür kann man übrigens Geld spenden, schon kleine Summen helfen. Ich habe auch dafür gespendet.
Insofern sind die EcoVillage- und Permakultur-Bewegungen ein gutes Beispiel dafür, wie sich die gesamte Ukraine seit Kriegsbeginn selbst organisiert hat. Und selbstverständlich ist es ein Vorteil, dass Menschen auf dem Land wohnen und noch über das Wissen verfügen, wie traditionelle Landwirtschaft funktioniert, wie Vorratshaltung abläuft, wie sie ihre eigenen Gärten bewirtschaften. Auch handwerkliches Wissen ist in großen Teilen noch vorhanden. Also wie aus der Milch der ein, zwei Kühe, die man besitzt, Käse oder Butter hergestellt wird. Oder wie aus dem Obst der Bäume Fruchtsäfte gemacht werden. Das alles trägt dazu bei, dass das System resilient ist und stärker als andere Systeme. Es wirkt vielleicht, wenn man dort ist, ein wenig wie „aus der Zeit gefallen“, wie „stehengeblieben“. Aber nein, das ist es gar nicht. Das zeigt sich jetzt deutlich.
Ich bin froh, dass wir in unserem Projekt EcoVillage und Permakultur unterstützen können. Wir haben zum Beispiel – vor dem Krieg – Videokonferenzen und Videovorträge zur Permakultur finanziert. Die Inhalte wurden von den Dorfgemeinschaften komplett eigenständig entwickelt und stehen im Internet auch jedem zur Verfügung, zum Beispiel auf der Facebook-Seite der @PermacultureUkraine.
Herr Dreesmann, was können wir, was kann jeder Einzelne tun, um die Ukraine zu unterstützen?
Diese Frage treibt viele Menschen um, mich eingeschlossen. Auch in unserem Projekt haben wir sofort darüber gesprochen, wie wir ad hoc helfen können, besonders den ökologischen Betrieben in der Ukraine. Uns war klar, dass dieser Krieg länger dauern könnte, mit gravierenden Einbrüchen gerade für die Landwirtschaft.
Wir haben uns dann an die Nothilfe für die Opfer der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr erinnert und sind mit dieser Idee im Kopf wenige Tage nach Kriegsbeginn zur Zukunftsstiftung Landwirtschaft gegangen. Und bereits Ende März, gerade mal vier Wochen nach Kriegsbeginn, ist die Nothilfe Ukraine Ökolandbau an den Start gegangen, d-i-e Spendenaktion für die ukrainischen Biobetriebe!
Es hat mich sehr gefreut, dass die Zukunftsstiftung zusammen mit unserem Projekt so schnell reagieren konnte. Wir waren auch deshalb so schnell, weil unser Projekt die Kontakte in die Ukraine, zu den Bio-Betrieben und Ministerien, und zu den Dolmetschern hat – und weil das Networking mit der Zukunftsstiftung so hervorragend funktioniert. Wir haben unter anderem zusammen mit der Zukunftsstiftung das Anschreiben für die Aktion entwickelt und die Betriebe über die Ökoverbände in der Ukraine informiert. Zwei Personen aus unserem Projekt stehen permanent als Ansprechpartner*innen in die Ukraine und zu den dortigen Biobetrieben und -organisationen zur Verfügung.
Wie ist die Resonanz auf die Aktion? Wie viele Biohöfe haben signalisiert, dass sie Hilfe benötigen?
Mittlerweile sind 168 Anträge auf Nothilfe bei uns eingegangen (Stand 6.7.2022), im Gremium haben wir alle bereits besprochen, so dass wir Mittel in Höhe von 520.000 Euro zusagen konnten. Pro Betrieb zahlt die Zukunftsstiftung bis zu 5.000 Euro aus, das ist derzeit die Obergrenze. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Für die Nothilfe sind wir auf viele Spenden angewiesen, jede*r kann mitmachen. Das ist eine sehr konkrete Hilfe für die Bio-Bäuer*innen in der Ukraine.
Die Hilfsaktion hat aber noch einen anderen Vorteil: Sie verschafft allen ein sehr klares Bild davon, was durch den Krieg in der Landwirtschaft passiert ist. Wie die russische Armee das Land zurücklässt, habe ich bereits geschildert. Zusätzlich gibt es oft keine Infrastruktur mehr. Die Verbindungswege sind zerstört, Absatzgebiete zusammengebrochen. Auch an diesem Punkt unterstützen sich die Ukrainer*innen gegenseitig und halten zusammen. Wenn sie von uns, von vielen Menschen aus vielen Ländern, zusätzlich gezielt und punktuell Hilfe erhalten, finde ich das einen guten Weg. Wenn man das als Summe sieht, kann man zusammen viel helfen. Das ist die Basis und so kommt man voran: Zusammenarbeit und Perspektive. Wir dürfen uns nicht an das Leid gewöhnen, wie wir es 2014 beim Angriff auf die Krim bereits einmal gemacht haben. Es ist eine Herausforderung und Verantwortung an uns alle in Europa, speziell diesem Land beizustehen – und auch der Landwirtschaft.
Danke für dieses intensive Gespräch, Herr Dreesmann! Wir wünschen Ihnen, dass Sie mit Ihrem Projekt und Ihren Mitarbeiter*innen weiterhin viel Gutes bewirken können.
*Ihr möchtet helfen? – Nothilfe Ukraine Ökolandbau
Die Zukunftsstiftung Landwirtschaft der GLS Treuhand setzt sich für den Ökolandbau Ukraine ein. Die Lage für rund 400 Biobetriebe ist schwierig. Auf den ukrainischen Höfen sind viele Flüchtlinge angekommen, die versorgt werden müssen. Für die Traktoren mangelt es jedoch an Diesel und manchmal fehlt auch das Saatgut. Jede Hilfe in Form einer Spende ist willkommen. Die Stiftung hat durch das Projekt „Deutsch-Ukrainische Kooperation Ökolandbau“ einen direkten und vertrauenswürdigen Kontakt zur Biolandbau-Bewegung in der Ukraine.
Schreibt uns gerne eure Gedanken und Meinungen in die Kommentare!
Den ersten Teil könnt ihr hier lesen:
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