Seit über 45 Jahren finanziert die GLS Bank ausgewählte Behinderteneinrichtungen. Aktivisten aus der GLS Community stellen solche Einrichtungen grundsätzlich infrage. Ein nicht auflösbarer Widerspruch? Mit dieser Frage war Falk Zientz unterwegs.
Der Autor Falk Zientz ist Chefredakteur des Bankspiegels und hat vielfältige Bezüge zum Thema: Zivildienst in einer sozialtherapeutischen Dorfgemeinschaft, begleitete als GLS Kreditberater unter anderem die hier beschriebene Einrichtung in Rohrlack, ist langjährig dem erwähnten Dorf Seewalde verbunden sowie Schülervater an einer Förderschule. Seit 2010 sind Raúl Krauthausen und Falk Zientz Ashoka Fellows.
Idyllisches Brandenburg: An einem sommerlichen Freitagnachmittag kommen unter Lindenbäumen über 70 Menschen zusammen, etwa die Hälfte der Bewohner*innen der Ortschaft Rohrlack im Westhavelland. Die Ortsvorsteherin begrüßt alle mit Handschlag. Die meisten haben etwas zum Essen mitgebracht. Kinder werden geschminkt. Der Wagen des benachbarten Waldkindergartens hat seine Türen geöffnet. Einige Menschen der Lebensgemeinschaft Rohrlack, die im Ort Werkstätten und Wohnheime mit etwa 40 Plätzen betreibt, sind dabei. Hier treffen wir Christian Raasch von der Einrichtung: „Selbstverständlich beteiligen wir uns hier auch am Dorfkreis, der solche Veranstaltungen wie heute plant.“ Wir gehen weiter an der kleinen Dorfkirche vorbei und er erwähnt, dass die Lebensgemeinschaft hier regelmäßig ihre Sonntagsfeier veranstaltet, in Absprache mit der Kirchengemeinde. Vor allem erzählt Raasch aber von der Kulturarbeit, die immer wieder auch Publikum aus der ganzen Region anzieht. Derzeit erarbeiten Theaterpädagogen mit einer Gruppe ein Stück, das nächstes Jahr aufgeführt werden soll. Kultur bringe Menschen zusammen und das trage zur Entwicklung der Region bei. Dafür steht bereits ein besonderer Ort zur Verfügung: das Schloss Vichel im Nachbardorf. Raasch ist offensichtlich ein Gestalter, und er denkt immer ganz selbstverständlich über die Grenzen seiner Einrichtung hinaus.
Kennengelernt hatte ich Raasch eine Woche vorher in Berlin am Sitz der LebensWerkGemeinschaft gGmbH, der Trägerin von Rohrlack. In Berlin war ich gemeinsam mit den Aktivist*innen Anne Gersdorff und Raúl Krauthausen unterwegs. Mich interessierten deren Perspektiven auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Was sind ihre Erfahrungen mit Einrichtungen? Wie weit sind wir mit der Inklusion? Ihre Antworten waren schonungslos und stellen das System infrage.
„Sonderwelten“
„Behinderteneinrichtungen sind oft in Randlagen“, erklärte mir Raúl Krauthausen, als wir auf dem Weg zur LebensWerkGemeinschaft feststellen mussten, dass der einzige Fahrstuhl am S-Bahnhof Zehlendorf kaputt war. „Abends in die Stadt zu fahren, ist dann für Rollstuhlfahrer ausgeschlossen.“ Krauthausen hat nichts Grundsätzliches gegen „Sonderwelten“, wie er diese Einrichtungen nennt. „Für bestimmte Lebensabschnitte wie Kindergarten oder Altersheim ist das vielleicht ganz sinnvoll. Aber für viele Behinderte bedeutet das, lebenslänglich separiert zu sein.“ Das zeigt sich auch in Werkstätten: Weniger als ein Prozent der dort Arbeitenden schafft den Übergang in den regulären Arbeitsmarkt. Ein Grund dafür ist sicherlich die Schwere von Behinderungen. Krauthausen macht aber auch die öffentlichen Förderungen dafür verantwortlich. „Es gibt starke ökonomische Anreize, die Menschen im Fürsorgemodus zu halten, aber nur geringe Anreize, die Menschen raus zu lassen.“
„Schonraumfalle“
Das prägt die Menschen. Anne Gersdorff hat das selbst in einer Förderschule erlebt, bevor sie dann an einer inklusiven Schule Abitur machte und studierte. „Wenn allen um mich herum nichts zugetraut wird, dann arbeite auch ich immer weniger an meinen Wünschen und Träumen.“ Sicher gebe es Menschen, für die eine einfache Tagesstruktur genau das Richtige sei, so Krauthausen. „Aber viele andere kommen dann mit in Sippenhaft.“ Er erzählt aus einer Wohngemeinschaft, in die er testweise eingezogen war: „Um 18.00 Uhr hast du Hunger, weil es dann immer Abendessen gibt. Danach ist Bettgehzeit. Um 21.00 Uhr bist du müde, denn dann sollen alle schlafen. Die Wohnung verlässt sowieso niemand alleine, weil alle Angst haben, mit dem Rollstuhl umzukippen.“ Formell dient diese Wohngemeinschaft zur Aktivierung. „Aber die Nachtschwester sagte mir: ‚Lebendig scheidet hier keiner aus.‘.“ Krauthausen fragt: „Wie können Menschen gegen ein solches System rebellieren, wenn sie um 19.00 Uhr ins Bett geschickt werden?“
„Scheitern“
„An unserem Scheitern sind wir gewachsen“, so Gersdorff. Dazu kann sie viele Geschichten erzählen. Das erste Mal alleine Bus fahren, das erste Mal jemanden bitten, die Türe aufzuhalten. „Inklusion ist auch, wenn der Busfahrer zu mir mal unhöflich ist und ich das trotzdem bewältige“, sagt sie. Durch das Scheitern können sich Menschen entwickeln. Einrichtungen mit Rundumversorgung verhindern aber viele Möglichkeiten zu scheitern — und somit auch zu wachsen.
„Freiheit“
„Ich bin immer auf der Suche nach Begegnungen, die nicht geplant sind“, so Krauthausen, „denn wir können die Barrieren in den Köpfen nur durch echte Begegnungen abbauen.“ Einrichtungen haben aber feste Tagespläne und klare Grenzen. Auch aus regulatorischen Gründen muss fast jedes Detail durchgeplant sein. Zufällig kommt kaum jemand rein oder raus. Aber zum Menschsein gehört, seine eigenen Freunde zu finden und seinen individuellen Umkreis aufzubauen, in dem man wirksam werden kann. Dazu Krauthausen: „Das ist die Herausforderung: Wie kann sich ein Behinderter als Person befreien?“ Für Gersdorff ist ein Anfang dazu, gemeinsam an der Frage zu arbeiten: Wie sieht mein Traumzuhause aus? „Schon alleine der Wunsch, eine Katze zu haben, kann aber das Pflegesystem sprengen.“ Wird dies dann nur als Störung der Ordnung gesehen oder als Chance, das System zu ändern?
„Chancen“
„Von einer barrierefreien Welt profitieren alle, nicht nur die zehn Prozent mit Behinderung, sondern vor allem die anderen 90 Prozent“, sagt Krauthausen. „Ohne Inklusion verpennen wir die Chancen, dass Menschen großartige Piloten werden oder traumhafte Liebhaber — und stattdessen Post sortieren müssen und um 19.00 Uhr ins Bett geschickt werden.“ Krauthausen erzählt von einer Freundin, die er an diesem Morgen in den Zug bringen wollte: „Sie wurde aber abgewiesen, da die Behindertentoilette nicht funktionierte. Dass sie die zwei Stunden ohne Toilette schafft, das hat ihr die Bahn nicht zugetraut.“ Also hat sie ihren wichtigen Termin in Magdeburg verpasst. Wie soll ein beruflicher Werdegang unter solchen Voraussetzungen funktionieren?
Die beiden Aktivist*innen können von vielen solchen Erlebnissen berichten. Sie tun das sehr sachlich, drücken nicht auf die Tränendrüse. Aber bei mir kam eine tiefe Traurigkeit an. Wie viele Schicksale stehen dahinter? Wie viele Talente verlieren wir durch unsere Ignoranz? Die Traurigkeit darüber müsste unser Lächeln erfrieren lassen, das wir oft gegenüber Behinderten aufsetzen. Dann erst würden wir überhaupt in die Lage kommen, Schritte in Richtung einer inklusiven Gesellschaft zu gehen.
Was also tun? „Wir brauchen eine Beteiligung von Behinderten an allen Strukturen“, so Krauthausen, „von der Konzeption bis zur Umsetzung. In allen Gremien müssen Behinderte mit ihren Erfahrungen vertreten sein.“ Das will er verbindlich festschreiben.
Was sagen die Einrichtungen dazu?
Da ich einige Einrichtungsleiter kenne, sprach ich diese ganz direkt an. Die Reaktionen waren meist zweigeteilt: Zum einen wurden die massiven Regulierungen beklagt, die sinnvolle Veränderungen verhindern. Das ist sicherlich die eine Realität. Vor allem aber begegnete ich: Zustimmung. So sagte etwa Thomas Gädeke vom Dorf Seewalde: „Die ungeplanten Begegnungen und auch das scheitern Dürfen treffen den Kern unseres Selbstverständnisses und der Zukunftsfragen der Sozialtherapie überhaupt.“ Die Gesetzmäßigkeiten der Einrichtung stehen regelmäßig in Konflikt mit den individuellen Bedürfnissen und Entwicklungen. „Unser Ziel ist aber ein möglichst selbstbestimmtes Leben. Man darf das heute ja kaum sagen, aber: Auch Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Schwierigkeiten.“ Dann schildert Gädeke, warum für bestimmte Menschen ein Leben im Dorf genau das Richtige ist: Durch die überschaubaren Verhältnisse können sie sich im Alltag frei bewegen und anderen begegnen. „Es kommt sehr auf das richtige individuelle Maß an“, findet Gädeke.
Zurück in Rohrlack, wo Christian Raasch und ich über unsere Eindrücke aus dem Gespräch mit den Aktivist*innen sprechen. Er betont, dass es eine größere Wachheit brauche für die Bedürfnisse jedes Einzelnen, für persönliche Entwicklung. Zur Wirksamkeit ungeplanter Begegnungen sagt er: „Dieser Gedanke ist ganz wesentlich für unsere Kulturarbeit hier in der Region.“
An diesem Sommertag bin ich mir sicher: Die Perspektiven von Behinderten auf die Einrichtungen sind ganz wesentlich. Denn dadurch wird die Frage immer wieder zugespitzt: Was soll die grundsätzliche Wirkung sein? In diesem Sinne verstehe ich auch die Forderung von Krauthausen: Behinderte in alle Gremien. Kompetente Schwerbehinderte dazu gibt es genug. Mit Bewohnerbeiräten haben die meisten Einrichtungen bereits einen Anfang gemacht. Und was Krauthausen auch noch sagte: „Letztlich sind wir alle für die Inklusion verantwortlich!“
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[green_box]Ein Artikel aus dem GLS Kundenmagazin Bankspiegel. Diesen und viele andere spannenden Artikel finden Sie im Blog. Alle Ausgaben des GLS Bankspiegel als PDF finden Sie unter: https://www.gls.de/bankspiegel/. [/green_box]
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