Hitzacker Dorf — hier baut man auf Solidarität

Sechs erste Häuser im Wendland stehen für eine große Idee: offen für alle Kulturen sein, unabhängig vom Geldbeutel und gemeinschaftlich organisiert. Das Schönste daran: Wie eine sehr bunte Gruppe das alles mit Wärme und Tatkraft in die Wirklichkeit holt.

Matthias „Mattus“ Korn sucht nach den passenden Worten dafür, wie sein erster Besuch in Hitzacker Dorf vor gut einem Jahr war. „Eine glückliche Fügung“, sagt er schließlich. Rita Lassen, die ihn damals in Empfang nahm, nickt freundlich. Korn musste raus aus Hamburg, war obdachlos („Nur beinahe“, betont er.) und ziemlich verzweifelt. Ein Zimmermann empfahl ihn nach Hitzacker: Dort würde ein Dorf gebaut, wo man jede Hand brauchen kann, auch und gerade die von ihm. Der Zimmermann hatte dort mitgearbeitet und kannte die Menschen.

Matthias Korn
Matthias Korn

Die Leute im Dorf wiederum erinnern sich, dass Korn zunächst scheu und eigenbrötlerisch war, als er kam. Heute ist er Mitglied der Genossenschaft, die das Projekt trägt, mit eigener Wohnung, aufgeschlossen und fröhlich, und keiner möchte ihn mehr missen. „So etwas gelingt nur in Gemeinschaft“, sagt Lassen. Sie gehört zu den Begründer*innen dieser Gemeinschaft, die — so scheint es — glücklichen Fügungen öfter mal freundlich nachhilft.

Rein äußerlich wächst das Dorf langsam: Sechs Häuser für rund 30 Bewohner*innen in einem Mischgebiet am Rande von Hitzacker sind fertig, Platz für 300 soll es einmal geben. Alles entsteht mit viel Eigenleistung; jede*r wie er oder sie kann. Die älteren Frauen haben sich auf Lehmputz spezialisiert — so wie Lassen, Diplomkauffrau im Ruhestand. Das ist körperlich nicht so herausfordernd. Für diese gemeinschaftlichen Arbeiten gibt es keine Tabellen und Zeitkonten. Ein Zeichen für die Verbundenheit und Verbindlichkeit im Dorf: Man nimmt an, dass jeder das Seine beiträgt, und hält es aus, mit gelegentlichen Zweifeln zu leben. Man sieht immer wieder lächelnde Menschen bei der Arbeit, und das nicht nur, weil gerade Besuch da ist.

Die Architektur wirkt anheimelnd und warm, Holz in den oberen Etagen erinnert an Schwarzwald oder Alpen, die Anordnung der Häuser an die berühmten wendischen Runddörfer der Gegend. Auch die jüngere Geschichte ist spürbar: Die Proteste gegen das Atommülllager in Gorleben seit den 1980er-Jahren haben die abgelegene Landschaft an der Elbe stark geprägt. Viele Genossen waren Teil der Proteste, im Wendland finden sich viele Biobetriebe, alternative Geschäftsideen, kulturelle und soziale Initiativen. Eine gute Gegend, um weitere Utopien zu versuchen.

Mit großen Begriffen allerdings haben sie es hier nicht so, aber mit Ansprüchen an sich selber.

„Wir sind ein soziales Dorf, es soll nicht am Geld scheitern“,

sagt Käthe Stäcker. Ein Drittel der Wohnungen ist für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte vorgesehen, ein Drittel für jüngere Menschen, Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Menschen mit Handicap, Wohnungslose. Das letzte Drittel ist für Ältere, die Erfahrung, Zeit und auch Geld mitbringen. Eine Solidar-AG findet Lösungen, wenn jemand die erforderlichen Genossenschaftsanteile nicht selbst aufbringen kann.

Nun gehen sie einen Schritt weiter: Es soll soziale Mieten im sogenannten Bieterverfahren geben — jeder trägt nach seinem Ermessen durch versteckte Gebote bei, bis alle Kosten gemeinschaftlich gedeckt sind. Stäcker findet es

„total spannend, wie sich das auf die Gemeinschaft auswirkt.“

Als eine Kommune verstehen sie sich eher nicht und „auf jeden Fall nicht als Wohnprojekt!“, so Stäcker. Das klingt ihr zu sehr nach Sozialarbeit. Auf jeden Fall wollen sie ein Beispiel abgeben für andere. Dazu gehört die Idee der Soziokratie, eine Organisationsform, die über Arbeitsgruppen und Delegierte auf Mitverantwortung und „Konsent“ setzt. Stäcker sagt dazu scherzhaft:

„So lange reden, bis alle einverstanden sind.“

Naram Alomar
Naram Alomar

Die dörfliche Struktur macht womöglich auch den interkulturellen Ansatz leichter. Die Syrerin Naram Alomar erzählt, wie daheim die erweiterte Familie immer zusammen war:

„So erlebe ich es auch hier. Ich finde, die ganze Welt sollte so leben.“

Alomar ist 2014 mit ihrer Familie aus Aleppo geflüchtet. Dort war sie Jurastudentin, ihr Mann Sala Mostafa Goldschmied. Jetzt beginnt sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin, er steht am Ofen einer Pizzeria. Geflüchtetenschicksal, aber sie ist glücklich:

„Hier ist mein Herz aufgegangen.“

Karoline Klose
Karoline Klose

Ihre beste Freundin ist Rita, die schwerbehinderte Frau eines Arztes, der sein Praxisschild vor dem Dorf aufgestellt hat. Überzeugt von Hitzacker Dorf hat sie ihre Tochter Karoline Klose, die im Sommer eine interkulturelle WG eröffnen wird. Sie habe mal in New York gelebt, verrät Klose — bald stellt sich heraus, dass sie für die UN gearbeitet, in Cambridge und anderswo studiert und an Dutzenden Orten in aller Welt gelebt hat. Ihre letzte Station in Haiti war traumatisch, deshalb ist sie hier. Und personifiziert das interkulturelle Ideal. Mit Klose jedenfalls hat es einen Perspektivwechsel gegeben.

„Wir sagen jetzt nicht mehr: Wir betreuen Geflüchtete“,

sagt sie.

„Sondern wir leben mit ihnen.“

Neu gedacht wird auch die wirtschaftliche Grundlage. „Wir müssen und wollen Arbeit schaffen“, sagt Matthias Metze, bislang Experte für E-Commerce und jetzt Vordenker für gemeinschaftliche Ökonomie. Das Modell ist die solidarische Landwirtschaft: Eine Gemeinschaft trägt ein Unternehmen, indem sie die laufenden Kosten vorausbezahlt und die Erzeugnisse später genießt. Diese als Community Supported Agriculture (CSA) weltweit erfolgreiche Wirtschaftsweise soll nun als CSX auf andere Unternehmen übertragen werden. Zu den Ideen in Hitzacker Dorf gehören eine Bäckerei und eine Markthalle, aber auch ein Therapeutikum mit Fachärzt*innen und Therapeut*innen.

„Vertrauen gehört immer dazu“,

sagt Metze. Als Community-Projekt ist auch ein ambulanter Pflegedienst nach dem holländischen Modell Buurtzorg gedacht, der mit selbstständigen Teams und unter Einbeziehung von Verwandten und Freunden arbeitet. Ein Genosse will Pilze züchten, sodass es wohl recht oft Pilzgerichte geben wird, wenn die Community mitmacht.

Matthias Metze
Matthias Metze

Das gemeinsame Bauen hat zusammengeschweißt; allen scheint bewusst, dass es mit den neuen Vorhaben schwieriger werden könnte. Wie weit wird die Solidarität führen? Metze sieht sich auf der Baustelle um, auf der schon viel Schmuckes zu sehen ist: „Alles hier ist aus dem Nichts entstanden, nur durch gemeinschaftliche Tätigkeit. Ich finde das schon ganz ansehnlich.“ Das ist es wirklich, und dieser Gemeinschaft ist auch auf den zukünftigen Feldern alles zuzutrauen.

hitzacker-dorf.de

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Titelbild: Käthe Stäcker / Fotos: Raimund Witkop

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