Carola Rackete: „Wir alle haben Schulden“

„Zukunft wird jetzt gemacht“ – heißt es bei der Jahresversammlung 2021. Am Donnerstag, den 10. Juni ab 19 Uhr tritt Carola Rackete auf. Die Naturschutz-Ökologin und Kapitänin beschäftigt sich mit Klimagerechtigkeit und kehrt nach ihrer Zeit in der Seenotrettung wieder zu ihrem Kernthema zurück – Biodiversität. Die ist bereits an einem kritischen Punkt angekommen. Immer mehr Arten sterben aus. Wir müssen Grundlegendes ändern, vor allem die Wirtschaft. Wie wir Biodiversität schaffen, was das Klimagesetz kann und wie mit rechter Hetze umgehen, kläre ich mit Carola Rackete.

Warum ist Biodiversität so wichtig?

Carola Rackete
Carola Rackete

Carola Rackete: Wir müssen uns bewusst machen, dass der Mensch nicht getrennt vom ‚Rest der Natur‘ lebt, wie es im westlichen Weltbild teilweise dargestellt wird. Der Mensch ist Teil eines Lebensnetzes der Natur, in der alle Spezies verbunden sind – wenn auch die meisten nur indirekt. Dabei betrifft die Diversität nicht nur die Arten selbst, sondern auch die genetische Diversität innerhalb der Arten, wie auch die Diversität der Ökosysteme. Hier sprechen wir von unterschiedlichen Typen von Wäldern, der Tundra, Savannen, Steppen usw. Auch dort müssen wir die Vielfalt erhalten.

Die Klimakrise verursacht jedoch große Veränderungen in den Ökosystemen. Für viele Arten ist es dann schwierig in ihrer ökologischen Nische zu bleiben, da diese sich durch die Klimaveränderung selbst stark verändert. Denken wir z.B. an Spezies, die an Bergen leben, diese sind gezwungen, die Berge immer weiter hoch zu wandern.

Die Biodiversität ist auch für unsere Nahrungsversorgung wichtig, für Bestäubung, biochemische Prozesse, Nährstoffzyklen. Aktuell befinden wir uns im sechsten Massensterben der Arten. Wir haben eine Aussterberate, die sehr viel höher ist als die normale Hintergrundrate wäre und Gründe dafür sind gut erforscht, wie im Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) 2019 erklärt. An erster Stelle geht es darin um Landnutzungsveränderungen, wie die Abholzung von Wäldern, aber auch um die Übernutzung von Ökosystemen und Spezies, beispielsweise durch den industriellen Fischfang. Es geht aber auch um invasive Arten, die im Regelfall durch Menschen aus anderen Ökosystemen eingeschleppt werden. Ebenso sind die Klimakrise oder die Verschmutzung der Atmosphäre, Böden und Gewässer Thema. Da ist man direkt bei der Industrie und auch bei der industrieller Landwirtschaft.

Unser Wirtschaftsmodell scheint ja nicht so viel von Biodiversität zu halten. Was muss sich ändern?

Carola Rackete: Der IPBES Bericht 2019 hat festgehalten, welche indirekten Treiber die schon genannten direkten Treiber verursachen. Es hängt damit zusammen, wie unsere westliche Industriegesellschaft organisiert ist. Andere Kulturen haben einen wesentlich geringeren Energie- und Materialverbrauch. Deshalb stellt sich auch nicht die Frage nach der Überbevölkerung: Ein Kind in Bangladesh verbraucht nur einen Bruchteil dessen, was ein Kind hier in Zentraleuropa verbraucht. In dem Bericht wird die Abkehr vom Paradigma des Wirtschaftswachstums gefordert. Er stellt unsere Gesellschaft vor die Frage: Was bedeutet Wohlstand? Wie schaffen wir Wohlstand für alle? Wie schaffen wir eine gerechte Verteilung der Ressourcen?

Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass sich das Bruttoinlandsprodukt nicht vom Materialfluss abkoppeln lässt. Das heißt, dass es möglicherweiße von Faktoren wie CO2 abgekoppelt wird, aber von allen anderen Ersatzprodukten nicht. Beispielsweise in der Energiewirtschaft benötigen Solarzellen Ressourcen wie Lithium. Das wird in Bolivien, Argentinien oder Chile abgebaut und führt dort zur Umweltverschmutzung und dem verstärkten Verlust der Artenvielfalt, sollte es bald auch vom Meeresboden gefördert werden. Wir haben dann eine sogenannte Verschiebung der Zerstörung der Ökosysteme.

Dekarbonisierung reicht da nicht. Wir müssen den globalen Materialverbrauch verringern. Das ist aber nicht möglich, solange die Wirtschaft wachsen will. Viele glauben zwar an das grüne Wachstum, es mangelt aber an harten Fakten, die unterstützen, dass wir die Abkopplung wirklich erreichen.¹ Bisher haben wir nicht die Möglichkeit alles zu recyceln, deswegen ist eine Kreislaufwirtschaft utopisch, weil uns schlicht die technischen Fähigkeiten dazu fehlen und es teilweise immer noch billiger ist, neue Materialen aus der Natur zu entnehmen, als Möglichkeiten für Recycling zu schaffen.

Doch wichtiger ist, dass die Rebound-Effekte oft nicht mitgedacht werden: Als etwa Holzfäller Kettensägen bekamen und nicht mehr mit der Hand fällen mussten, haben sie nicht die gleiche Anzahl an Bäumen mit einem geringeren Zeitaufwand gefällt, sondern schlicht mehr gefällt als vorher. Die Holzfirmen betreiben dann Marketing und versuchen neue Produkte zu verkaufen, die vorher niemand haben wollte. Natürlich müssen wir etwa Erneuerbaren Energien so schnell wie möglich ausbauen. Allerdings ist das Verschieben der Probleme keine echte Lösung, wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das nicht ständig wachsen muss.

Fridays for Future hat erfolgreich gegen das Klimagesetz geklagt. Wie denkst du darüber?

Carola Rackete: Ich finde es katastrophal, dass überhaupt vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt werden muss, damit die Bundesregierung etwas einhält, was sie selbst im Bundestag beschlossen hat. Klimaschutz in Übereinkommen mit dem Pariser Klimaabkommen zu machen, hat der Bundestag selbst beschlossen! Es ist natürlich ein gutes Zeichen, dass das Gericht der Klage Recht gegeben hat und dass jetzt nachgebessert werden musste.

Was ich aber insgesamt unzureichend finde ist, dass die ganzen Berechnungen von Paris nicht die historischen Emissionen im Auge behalten, dass dieses sogenannte Carbonbudget, das wir angeblich noch haben, so tut, als ob einfach alle Menschen noch die gleiche Menge an Emissionen zur Verfügung hätten. Dabei wird überhaupt nicht beachtet, dass Deutschland in der Vergangenheit schon viel mehr emittiert hat als viele andere Länder. Die historischen Emissionen von Deutschland sind immer noch die vierthöchsten überhaupt und das für einen kleinen Anteil an Menschen, der hier lebt. Ich finde, das muss ins Verhältnis gesetzt werden. Es gibt dazu eine Berechnung – das Fair Share Budget –  an der man sehen kann, dass Deutschland sein Carbonbudget schon lange aufgebraucht hat.

„Wir alle haben ökologische Schulden bei der Welt.“

92 Prozent der CO2-Emissionen, die sich in der Atmosphäre befinden, sind von den Ländern des globalen Nordens ausgestoßen worden. Es ist nicht fair, so zu tun, als würde das verbleibende Budget jetzt unter allen aufgeteilt werden können. Im Gegenteil, der globale Norden hat viel von den fossilen Energien profitiert und die Schäden werden hauptsächlich von Menschen in Ländern getragen, die sehr wenig Verantwortung dafür tragen.

Es geht also um globale Gerechtigkeit?

Carola Rackete: Dem Gerichtsurteil oder der Fragestellung überhaupt fehlt eine ganz große Komponente und zwar die der globalen Gerechtigkeit. Denn es geht um viel mehr als darum, was mit den zukünftigen Generationen in Deutschland ist. Was ist mit den Menschen, die jetzt schon auf überfluteten Inseln leben? Oder die, die durch Dürren nicht mehr in der Lage sind Landwirtschaft zu betreiben, wie das zum Teil in Zentralamerika schon der Fall ist, oder im Tschad in Afrika. Ich glaube, dass Klagen ein sehr guter Weg sind und Regierungen zur Aktion zu zwingen. Aber ich glaube auch, es braucht wirklich noch viel mehr Aktivismus und Menschen, die auf die Straße gehen, sich in Initiativen engagieren und so weiter. Und auch nicht nur für Klimaschutz, sondern vor allem für Klimagerechtigkeit und für die systemische Veränderung, die wir brauchen.

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Auch der Weltklimarat und der Weltbiodiversitätsrat sprechen davon, dass wir einen transformativen Wandel in der Gesellschaft brauchen. Und da kann natürlich das neue Klimagesetz nur der kleinste Teil davon sein. Wir brauchen ein viel größeres Umdenken darüber, wie wir mit allen Lebewesen auf dieser Welt auf gerechte Art und Weise zusammenleben wollen. Wie wir den Reichtum und die Ressourcen, die wir haben, gerecht verteilen. Vor allem aber, wie wir die angerichteten Schäden, für die der globale Norden verantwortlich ist, wieder gut machen wollen. Das muss auch umgesetzt werden.

Von Rechts kommt für viele Aktivist:innen dauerhaft Kritik und Angriffe. Wie gehst du damit um?

Carola Rackete: Ich würde das jetzt nicht unbedingt Kritik nennen bzw. man muss unterscheiden, was ein Angriff von rechts ist und was tatsächlich inhaltliche Fragen sind. Es ist auf jeden Fall wichtig, strafbare Inhalte auch anzuzeigen, ansonsten zu blockieren oder zu melden. Gerade lief ja auch die Hausdurchsuchung gegen Herrn Höcke aufgrund von Hassposts. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung, bei dem was er im Zusammenhang mit der Seenotrettungsmission, an der ich beteiligt war, über Geflüchtete gesagt hat. Es hat ewig gedauert, über 14, 15 Monate, bis die Hausdurchsuchung letztlich kam. Aber es ist wirklich extrem wichtig, dass wir diese Wege nutzen, auch wenn sie immer so langwierig und frustrierend sind.

Es gibt auch Netzwerke, die man aktivieren kann, wenn man online Probleme mit Shitstorms und rechter Hetze hat. Es gibt ja auch sowas wie zum Beispiel ‚Hate Aid‘ oder das ‚Ich bin hier-Netzwerk. Aber ich denke, es geht hier hauptsächlich um Angriffe, also nicht um eine inhaltliche Kritik. Es geht um Hass und eine Verzerrung der Tatsachen, um weiter zu polarisieren. Das sieht man ja auch an der Berichterstattung der ‚Welt‘, die über Klimaaktivisten schreibt. Da sehe ich keine inhaltliche Kritik, mit der man tatsächlich irgendwie umgehen müsste. Dann glaube ich, ist es wichtig zu sehen, dass das wirklich hauptsächlich Leute sind, die für ihren Vorteil versuchen, polarisierende Stimmungsmache zu betreiben und sich nicht für das eigentliche Thema interessieren. Deswegen denke ich, muss man an diesen Stellen kontern – inhaltliche Kritik sieht für mich anders aus.

Das Interview führte Frederik Meissner. Wir danken Carola Rackete und wenn ihr Sie live sehen wollt, meldet euch hier für die Jahresversammung 2021 an. Falls ihr fragen habt, stellt sie gerne in den Kommentaren. 

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Dazu passend:

Das Potenzial der Natur entfalten

Quellen: ¹ Parrique, Timothée, et. al (2019). Decoupling Debunked. Evidence and Arguments Against Green Growth as a Sole Strategy for Sustainability. A Study.

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