Welche Fähigkeiten brauchen wir für die Zukunft? Der Zukunftsforscher Peter Spiegel und die Lehrerin Annikki Schimrigk im Gespräch.
Mein Sohn, zehn, erzählte mir kürzlich, er möchte Abenteuerschriftsteller werden. Wird man in Zukunft überhaupt noch etwas oder ist ein Beruf zu kurz gedacht?
Peter Spiegel: Wir leben im Vergleich zu früheren Generationen heute zwei, drei, sogar fünf Leben. Unsere Lebenszeit ist länger geworden, unsere Möglichkeiten größer. Es ist eine Zumutung, wenn wir Schüler*innen auf ein Berufsbild hin entwickeln lassen. Zudem wissen wir nicht, welche Berufe es in zehn Jahren noch gibt und welche völlig neu entstanden sein werden.
Annikki Schimrigk: Man macht im Leben einen Schritt nach dem anderen, zu jedem Lebensalter gehören eigene Ziele. Früher war das Leben klar vorgeschrieben: Papa ist Bäckermeister und ich werde irgendwann den Laden übernehmen. Heute müssen Kinder aus sich selbst schöpfen. Ein Ziel zu haben, ist eine Kompetenz — wo sind meine Stärken, wo sind meine Visionen, wie möchte ich die Welt verändern?
PS: Nach sinnstiftenden Dingen zu suchen — das gibt Menschen Kraft und Perspektive. Und das fehlt! Die Wissensvermittlung ist bisher zu dominant in den Schulen. Obwohl wir wissen, dass der Zugang zu Wissen kein Engpass mehr ist. Mit dem Smartphone hat man das Weltwissen in der Tasche. Wir müssen völlig andere Dinge lernen.
Welche Dinge sind das?
PS: Extrem an Wert gewinnen wird alles, was nicht digitalisiert und automatisiert werden kann, also die rein menschlichen Eigenschaften wie Kreativität, Vorstellungskraft, Intuition, Emotion und Ethik. Der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther sagt: „Das zutiefst Menschliche zu entdecken, ist die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts.“ Dazu gehört die Entwicklung von Kompetenzen wie Empathie, Storytelling, Kommunikation, systemisches Denken, auch Nachhaltigkeit.
AS: Ich bin Lehrerin an einer Waldorfschule. Was Ihnen fehlt, wird bei uns gelebt: heterogene Lerngruppen, keine Noten, große Klassen, die die Kooperation fördern, in denen Schüler*innen einander helfen. Der Lehrplan ist so aufgebaut, dass aus verschiedenen Perspektiven auf die Themen geschaut wird.
PS: Die Initiative der früheren Schulrektorin Margret Rasfeld fordert einen Frei-Day. Vier Stunden in der Woche frei für Aufgabenstellungen, die von den Schülern kommen. Doch diese Initiative kommt jedoch mit Schneckentempo in unsere Bildungslandschaft.
Warum kommt es nicht zur Umsetzung?
AS: Kollegen an staatlichen Schulen sind eng an die Prüfungsziele gebunden, die in einer gewissen Zeit erreicht werden müssen. Aber was nützt es wirklich? Als die erste PISA-Studie rauskam, hat eine private Schule überdurchschnittlich gut abgeschnitten, die besonders viel Theater gespielt und deutlich weniger Unterricht hatte.
PS: Die Fixierung aufs Pauken ist falsch und aus der Zeit gefallen. Die menschlichen und zwischenmenschlichen Kompetenzen, das ist die neue Bildungswährung. Die Kompetenzen, zu helfen, lebenslang dazuzulernen, sind viel wichtiger. Die Werteorientierung ist wichtig. Wenn die Werte nicht stimmen, ist die Sinnhaftigkeit und Motivation nicht gegeben.
Was macht eine gute Lehrkraft aus?
AS: Die Liebe zu den Schüler*innen, zum Beruf und das Interesse am Fach und an der Welt. Man muss selbst für die Dinge brennen, dann kann man auch das Interesse bei den Schüler*innen wecken. Auf Augenhöhe begegnen. Respektvoll miteinander umgehen, achtsam sein.
Wie bringt man jemandem Sinnorientierung und
Kreativität bei?
AS: Das fängt schon in der ersten Klasse an, wenn die Kinder beginnen, die Welt um sich herum zu verstehen und wertzuschätzen. Vieles kommt durch das eigene Tun: zum Beispiel das Feld bestellen, säen, ernten, backen und das künstlerische Tätigsein. Die Schüler*innen müssen ihre eigene Wirksamkeit erleben können.
Wie kann man die Qualität des Lernens verbessern?
AS: Die Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld hat zwei Fächer an ihrer Schule eingeführt: Verantwortung übernehmen und Herausforderungen meistern. Wenn man sich diese Freiheit nimmt, kann man viel verändern. Die Schüler*innen der Schule haben sich in den Fächern gefragt, warum an anderen Schulen die Motivation so leidet. Dazu haben sie eine Lehrerfortbildung entwickelt, von Schüler*innen für Lehrer*innen. Mehr als 20.000 Lehrer*innen haben sie bis heute besucht.
Was muss konkret passieren, damit sich Schulen mehr öffnen?
AS: Das Schulsystem muss sich ändern, freier werden. Eltern und Schüler*innen müssen sich dafür stark machen, sonst wird die Politik nicht reagieren. Dass die Berufsbilder sich in der Zukunft ändern, ist ja offensichtlich.
PS: Das Allerwichtigste sind die Eltern. Die müssen umdenken, weil sie noch ihre alte Schulzeit im Kopf haben und meinen, es werden noch Noten gefordert.
Wurde Veränderung verlernt?
AS: Es ist bezeichnend, dass das wichtigste „lernende System“, das Bildungssystem, kein lernendes System ist. Zu viele Lehrer*innen sind entmutigt. Sie können aber persönlich Verantwortung übernehmen und die neuen Kompetenzen lehren, auch ohne Genehmigung. Wenn es zu einer Lehrer*in-
nenbewegung werden würde, das wäre der Durchbruch.
Annikki Schimrigk, 54, ist Ärztin und begleitet als Waldorflehrerin in Bochum Kinder in den ersten acht Schuljahren.
Peter Spiegel, 68, ist Zukunftsforscher, Autor, Initiator und Leiter des Think-&-Do-Tanks WeQ Institute.
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