Bei der Frage, inwieweit wir als Einzelpersonen Verantwortung für die Bekämpfung der Klimakrise tragen, scheiden sich die Geister. Gibt es darauf die eine richtige Antwort? Welche Hebel gibt es für Veränderung? Wie können wir uns ein Gefühl der Selbstermächtigung zurückholen? Und was sind „soziale Kipppunkte“? Ein Kommentar über das Spannungsfeld zwischen Ich, Wir und dem System.
Von Ann-Sophie Henne von nachhaltig.kritisch
Du stehst im Laden, zwischen all den klimafreundlichen, nachhaltigen und regionalen Produkten, und hast ein mulmiges Gefühl. Können die meisten dieser Begriffe nicht einfach willkürlich verwendet werden? Wieso ist es so exorbitant viel teurer, wenn man Produkte kaufen möchte, die unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt wurden? Wie soll man sie in diesem Sortiment überhaupt identifizieren?
Irgendwann gibst du auf und wirfst Produkte in den Korb, die auf den ersten Blick irgendwie okay aussehen. Oder einfach irgendwas. Wer hat Zeit, sich stundenlang im Supermarkt herumzudrücken und zu jedem Produkt eine Mini-Recherche anzustoßen? Warum fühlen wir uns beim Einkaufen ständig so, als würde das Gewicht der Welt auf unseren Schultern lasten? Und gleichzeitig so unglaublich machtlos?
Zur Autorin
Ann-Sophie Henne studierte International Business an der Hochschule Pforzheim und absolvierte dann ihren Master in Multimedia und Autorschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2019 hat sie das journalistische Projekt nachhaltig.kritisch mitgegründet, das sich mit den vielen Facetten des Klimawandels beschäftigt und dafür bereits mehrere Medienpreise gewonnen hat.
Seit sie das Ausmaß der Klima-, Biodiversitäts- und Klimagerechtigkeitskrise verstanden hat, nimmt das Thema den größten Teil ihres Lebens ein. Als Klimajournalistin, Podcast-Host und Speakerin will sie zeigen, dass der Klimawandel keine abstrakte Bedrohung ist, sondern reale Auswirkungen für uns Menschen hat. Besonders wichtig sind ihr die sozialen, gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen der globalen Erhitzung – und wie wir den Übergang zu einer gerechten Transformation gestalten können.
60 Prozent der Deutschen legen Wert auf Nachhaltigkeit
Rund 60 Prozent der Deutschen legen beim Einkaufen und ihrer Ernährung Wert auf Nachhaltigkeit. Gleichzeitig gibt rund ein Viertel der Menschen an, dass Greenwashing für sie eine Hürde darstellt, um sich für ein Produkt zu entscheiden. Zu Recht. Bekannt gewordene Fälle zeigen implizite Täuschungen (in Form von Bildern und Farben auf Verpackungen), explizite Täuschungen (in Form von selbst gegründeten Siegeln und Werbelügen in Textform) sowie Täuschungen, die sich durch ihre Vagheit auszeichnen. Doch anstatt uns gemeinsam dafür einzusetzen, dass Greenwashing strenger kontrolliert und geahndet wird, tendieren viele von uns dazu, im Supermarkt mit den eigenen Schuldgefühlen zu kämpfen*. Oder mit einem etwas zu guten Gewissen einzuschlafen, weil wir zu den grünen Verpackungen gegriffen haben.
Wir müssen jetzt einmal alle ganz stark sein: Es ist ein neoliberalistischer Mythos, dass wir mit unserem Wocheneinkauf die Welt retten oder in den Abgrund stürzen können. Wir werden uns mit Bio-Obst und Bambuszahnbürsten nicht von unserer Verantwortung freikaufen. Bei Unternehmen, die fragen, “Was tust du fürs Klima?” oder Werbeslogans à la “Rette das Klima”, ist große Vorsicht geboten.
All diese kommunikatorischen Maßnahmen verlagern die volle Aufmerksamkeit auf das Individuum. Und ja, all das ist wichtig. Doch wenn wir uns selbst an erste Stelle setzen, haben wir keine Energie mehr für die Frage des Wir. Wir haben keine Kraft mehr, uns zu fragen, wer von den aktuellen Strukturen profitiert und wie wir sie gemeinsam verändern können.
Schritt für Schritt, anstelle von Perfektionismus
Der Konflikt im Supermarkt steht repräsentativ für ein größeres Problem. Die Ambivalenz zwischen „Ich sollte mein eigenes Leben möglichst nachhaltig gestalten“ und „Wir brauchen doch einen Systemwandel“. Oft wird im Klimakontext, bewusst oder unbewusst, das eine oder das andere propagiert. Nach fünf Jahren intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema glauben wir, dass das die falsche Herangehensweise ist.
Beides ist wichtig, und individuelle Verantwortung schließt die Notwendigkeit eines Systemwandels nicht aus. Für beides brauchen wir Strategien, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. Bei beiden sollten wir nicht nach Perfektionismus streben, sondern Schritt für Schritt vorangehen.
Auf die individuelle Ebene gemünzt bedeutet das: Statt uns verbissen alles zu verbieten oder verrückte innere Tauschgeschäfte einzugehen, sollten wir die Bereiche unseres Lebens identifizieren, die eine besonders große Auswirkung haben. Das Umweltbundesamt nennt sieben solcher Big Points, mit denen eine durchschnittliche Person in Deutschland ihren CO2-Fußabdruck um die Hälfte reduzieren kann.
Einige dieser Punkte, wie der Bezug von Ökostrom und der Einsatz eines Sparduschkopfes, sind vergleichsweise einfach umzusetzen. Bei den Punkten pflanzenbetonte Ernährung, Flugverzicht und weniger Auto fahren schrillen dagegen bei vielen Menschen die Alarmglocken. Müssen wir denn jetzt auf alles verzichten, was Spaß macht? Alles auf Anfang, zurück in die Steinzeit?
Verlieren wir unsere Freiheit oder gewinnen wir Wohlbefinden?
Einen suffizienten Lebensstil als Verlust der persönlichen Freiheit zu framen, war der vielleicht genialste Schlag der liberal-konservativen Bubble und entsprechenden Lobby-Vereinen dieser Welt. Nur hat schon Kant gesagt: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Naturkatastrophen, Ernteausfälle, Wasserknappheit und wirtschaftliche Ausbeutung könnten da womöglich dazu zählen.
Zahlreiche Studien belegen außerdem, dass ein großes, schnelles Auto, drei neue Kleidungsstücke pro Woche und diverse Kurzstreckenflüge uns nicht einmal glücklicher machen. Im Gegenteil kann sogar ein minimalistisches Leben das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit stärken. Naja.
Sich mit seiner individuellen Verantwortung zu beschäftigen und klimaschädliche Gewohnheiten Schritt für Schritt umzustellen, ist also sehr sinnvoll. Warum wir dennoch nicht unsere gesamte Energie auf ein perfektes ökologisches Leben verschwenden sollten, wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, wem das in die Karten spielen würde.
Im Jahr 2004 investierte die Ölfirma BP 250 Millionen Dollar, um ein Konzept bekannt zu machen, das unser Denken bis heute zu großen Teilen prägt: der ökologische Fußabdruck. Während Bürger*innen damit auf einem Internetportal die Emissionen ihres Alltags berechnen und an ein paar winzig kleinen Stellschrauben drehen konnten, änderten die fossilen Konzerne nichts an ihrer eigenen Praxis und emittierten weiter die entscheidenden Mengen an Kohlendioxid. Das Ziel der gigantischen PR-Kampagne liegt auf der Hand: die Verantwortung von den fossilen Unternehmen hin zu den einzelnen Verbraucher:innen zu verlagern.
Weltweit sind 100 Unternehmen für knapp drei Viertel der Emissionen verantwortlich. Ganz vorne mit dabei: ExxonMobil, Chevron, Shell und BP. Gemeinsam mit anderen Unternehmen haben sie die Auswirkungen der steigenden Treibhausgasemissionen jahrzehntelang bewusst verschleiert und Milliarden über Milliarden Dollar Gewinne mit der Zerstörung unseres Planeten eingefahren. Heute, wo es immer schwieriger wird, die globale Erhitzung zu vertuschen, stehen teils absurde Greenwashing-Kampagnen im Vordergrund.
Soziale Kipppunkte: Umfangreiche Veränderungen auslösen
Angesichts dieser gewachsenen Strukturen können wir unser ganzes Leben lang feste Seife benutzen und ein eigenes Beutelchen mit zum Einkaufen bringen. Wir müssen es gleichzeitig schaffen, das große Ganze im Blick zu behalten. Wo liegen die Probleme unseres wirtschaftlichen und politischen Systems? Welche Strukturen müssen verändert werden für eine klimagerechte Welt? Welche Hebel haben wir als gesellschaftliches Kollektiv, das zu tun?
In der Forschung hat sich gezeigt, dass oft schon ein verhältnismäßig kleiner Teil der Bevölkerung ausreicht, um umfangreiche Veränderungen anzustoßen. In diesem Zusammenhang wird oft von sozialen Kipppunkten gesprochen. Genau wie ihr Pendant aus der Klimawissenschaft haben sie das Potenzial, in einer kurzen Zeitspanne tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen auszulösen.
Ein Beispiel für einen solchen Kipppunkt findet sich in der Emanzipation von Frauen und Flinta*. Innerhalb weniger Generationen haben Feminist*innen das patriarchale Gesellschaftssystem, das über viele Jahrhunderte galt, grundlegend revolutioniert. Auch wenn diskriminierende Strukturen bis heute andauern, ist die Situation von Frauen und Flinta* heute nicht mehr mit den Gegebenheiten von vor 50 Jahren zu vergleichen.
Die kritische Masse, die für einen solchen sozialen Kipppunkt benötigt wird, liegt irgendwo zwischen 10 und 40 Prozent. Es reicht also deutlich weniger als die Hälfte einer Gruppe aus, um einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Eine Studie hat sechs Bereiche identifiziert, die den Wandel zu einer klimaneutralen Welt verstärken können. Darunter zum Beispiel eine umfassende Energie- und Finanzwende, priorisierte Klimabildung an Schulen und weiteren Bildungsinstitutionen und eine Offenlegung der Treibhausgasemissionen, die von Unternehmen emittiert werden.
Letztlich gelten auch die Normen und Werte einer Gesellschaft als möglicher sozialer Kipppunkt. Ein solcher Wertewandel dauert zwar länger als ein gesetzlicher Beschluss, Investitionen von fossilen Energieträgern abzuziehen, kann aber mächtig sein. Denn als soziale Wesen werden wir stark von anderen Menschen beeinflusst. Der Drang, zu einer Gemeinschaft zu gehören, führt dazu, dass wir Verhaltensweisen von anderen abschauen.
Lassen viele Nachbar*innen das Auto stehen, fällt es uns deutlich schwerer, den kurzen Weg zum Bäcker zu fahren. Will plötzlich knapp die Hälfte der Familie beim Grillfest lieber vegane Wurst essen, wird auch beim Rest ein Prozess angestoßen. So banal das alles klingt: Gemeinsam mit Gleichgesinnten können wir tatsächlich dazu beitragen, dass sich soziale Normen und Werte in der Gesellschaft verändern.
Soziale Kipppunkte beeinflussen und stärken sich gegenseitig
Eine weitere gute Nachricht: Soziale Kipppunkte beeinflussen sich dabei auch gegenseitig. Je mehr Kipppunkte übertreten werden, desto höher ist die Chance, weitere auszulösen. Letztendlich kann dadurch eine Welle des Wandels erzeugt werden, die zu einer breiteren Akzeptanz und schnellen Umsetzung von Maßnahmen und strukturellen Veränderungen führt.
Um zu diesem Wandel beizutragen, können wir uns über die Klima- und Klimagerechtigkeitskrise informieren. Wir können uns über die Facetten der Klimakrise weiterbilden und mit anderen darüber sprechen. Wir können Petitionen starten oder unterschreiben. Wir können einen entsprechenden Verein gründen oder darin mitwirken. Wir können in die Politik gehen, entsprechende Vertreter*innen wählen, unser Umfeld zum Wählen motivieren. Wir können unser Geld nach ethischen Standards investieren.
Wir können Bildungsarbeit leisten. Wir können mit Menschen ins Gespräch kommen, die eine völlig andere Meinung haben. Wir können Orte schaffen oder an Veranstaltungen mitwirken, auf denen kleine Utopien gelebt werden.
Ein Wandel ist möglich
Auch, wenn es aktuell nicht danach aussehen mag: Ein Wandel ist möglich. Allein können wir ihn nicht auslösen. Doch als Teil einer Gruppe können wir das Gefühl von Ermächtigung wieder zurückbekommen. Wenn wir klar vor Augen haben, welche Zukunft wir wollen und was auf dem Spiel steht, dann können wir gemeinsam eine Transformation unseres wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systems erwirken. Wollen wir loslegen?
* Das Europäische Parlament stimmte im Mai 2023 für einen Vorschlag der EU-Kommission, falsche Umweltaussagen in Zukunft zu unterbinden. Damit dürfte Greenwashing künftig erschwert werden.
Was denkst du? Willst du mitmachen beim Wandel und Veränderungen anstoßen? Dich interessiert vielleicht auch dieser Artikel: Wie schaffen wir es, uns an Klimarisiken anzupassen?
Dieser Text ist ein Gastbeitrag des Onlinemagazins nachhaltig.kritisch aus Leipzig. Die drei Macher*innen Anna-Sophie Henne, Robin Jüngle und Annika Le Large machen mit nachhaltig.kritisch seit 2019 jungen und unabhängigen Klimajournalismus. Auf Instagram und allen gängigen Podcast-Plattformen gehen sie Klimathemen auf den Grund und hinterfragen den Status Quo der grünen Filterblase. Mit sorgfältigen Recherchen, kreativen Illustrationen und einem treffsicheren Gespür für relevante Themen erreichen sie monatlich bis zu 100.000 Menschen – Tendenz steigend. Mehr dazu gibt es auch auf ihrer Website.
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