Vier Wände im Kreis gedacht

Schwerpunktthema | Wir machen Zukunft

In Kassel zeigt eine Gruppe von Visionär*innen, wie die Zukunft gebaut werden kann. Für ihr fünfstöckiges Wohnhaus setzt sie auf Holz und Bauteile aus zweiter Hand.

Autor: Henri Backmund

Wenn die Mitglieder der Baugruppe in Kassel zusammenkommen und das Gerüst ihres Neun-Parteien-Wohnhauses besteigen, wird ihre gemeinsame Vision greifbar. Und das, obwohl der Bau noch in vollem Gange ist. Die behelfsmäßige Treppe führt vom Garten im Hinterhof vorbei an der Massivholz-Balkonkonstruktion zum Highlight des Wohnhauses. Die Dachterrasse gibt den Blick auf die Dächer der Stadt frei. Hinter der Herkules-Statue im nahegelegenen Bergpark geht die Sonne unter. Sie scheint auf den Gemeinschaftsraum auf der obersten Etage, liebevoll „die Blechhütte“ genannt. In der Patina der recycelten Verkleidung spiegelt sich, worauf sie sich von Anfang an geeinigt haben: Sie wollen zeigen, wie wir Bauen und Wohnen neu denken können.

Im September 2024 soll es – nur ein Jahr nach dem ersten Spatenstich – so weit sein: Die ersten Mieter*innen werden einziehen können. Nachdem das massiv gebaute Erdgeschoss des U10 fertig war, dauerte es nur drei Wochen, bis die vier Obergeschosse standen. Die Zeitersparnis ist neben der Ökobilanz ein weiterer Vorteil der Holzbauweise.

Das machen sie nicht nur mit der besonders CO2 sparenden Massivholzbauweise, sondern indem sie möglichst viele Bauteile aus zweiter Hand verwenden. „Schon beim Bau entsteht in der Regel die Hälfte der CO2-Emissionen, die ein Haus über seine Lebensdauer hinweg verursacht. Konzepte der Kreislaufwirtschaft helfen uns, dieses Problem gezielt anzugehen“, sagt Architekt und Bauherr Matthias Foitzik. Das klappt erstaunlich gut: „Schätzungen zufolge spart unser Haus zwischen 70 und 80 Prozent der Emissionen gegenüber einem konventionellen Bau in der Größenordnung.“ Zahlen, die auch die anderen aus der Baugruppe überraschen.

Bauteile aus zweiter Hand

Auch bei der Beschaffung der Bauteile war Teamarbeit gefragt. Insgesamt etwa 5.000 Kilometer Fahrstrecke sollen es im vergangenen Jahr gewesen sein. Auf der Ladefläche des Autos von Baugruppenmitglied Mario Hoebel stapelten sich nacheinander Türen aus dem Nachbarort, Heizkörper aus Münster, Balkongeländer aus Hannover, Waschbecken und Toiletten aus Paderborn und vieles mehr. Die Baugruppe sammelte die Fundstucke bei Privatpersonen aus der Umgebung ein, die sie bei Ebay Kleinanzeigen gefunden hatten.

Vision als Lückenfüller

Den Traum vom nachhaltig entworfenen Eigentum hatte Matthias schon lange. Die Chance dazu ergab sich, als sein Architekturbüro foundation 5+ zusammen mit dem Stadtplanungsbüro ebene4 die ehemalige Flache der historischen Kasseler Martini Brauerei neugestalten durfte. In der letzten Baulücke in der Uhlandstraße fand seine Vision Platz. „Der Name des Projekts, U10, setzt sich aus dem Anfangsbuchstaben der Straße und der Hausnummer zusammen. Zufälligerweise ist das auch die Zahl der Mitglieder der Baugruppe.“ Anfang 2022 begab er sich auf die Suche nach Gleichgesinnten und fand sie in Arbeitskolleg*innen, Freund*innen und Familienmitgliedern. Vier von ihnen sind auch in der Baubranche tätig.

In der Baugruppe verwirklichen die Mitglieder ihr Projekt ohne Bauträger oder externen Projektsteuerer. Das bedeutet: Sie erwerben gemeinsam das Grundstück und übernehmen alle Bauherrenaufgaben selbst. „Das Knowhow aller Beteiligten hilft uns in jeder Situation, schnell gute Lösungen zu finden. Das ist wichtig, schließlich tragen wir alle große Verantwortung und ein nicht geringes finanzielles Risiko“, sagt Matthias. „Wir sehen uns als Wegbereiter zukunftsfähigen Wohnens und Bauens. Es fühlt sich stimmig an, dass wir dabei die GLS Bank an unserer Seite haben.“

Beim zweiten Blick fallt es auch auf. Die Fenster gibt es in unterschiedlichen Grauabstufungen, die Heizungen mal eckig, mal abgerundet. Aber solange die Bauteile in Schuss sind und in die Optik des Hauses passen, ist es zu früh für die Mullhalde, findet Mario. Nur die alten Klinkersteine hatten einen kurzen Weg. Sie gehörten zu den Brauereigebäuden aus nächster Nähe. Nun werden sie Teil von Kassels erstem Massivholz-Hochbau in dieser Größenordnung.

Zu jedem der abgeholten Bauteile kann Mario eine Geschichte erzählen. Seine Fahrten hat er säuberlich dokumentiert. „Knapp eine Tonne CO2 kommt dabei wohl zusammen. Natürlich fliest das am Ende auch in die Ökobilanz ein. Trotzdem: Die Einsparungen gegenüber der Lieferung und Produktion neuer Teile sind beträchtlich.“ Tatsächlich weist der Bausektor grundsätzlich einen erheblichen ökologischen Fußabdruck auf. Laut Bundesumweltministerium (BMUV) ist die Immobilienwirtschaft allein für ein Drittel des Ressourcenverbrauchs in Deutschland verantwortlich. Lisa-Marie Schmidt findet, es sei allerhöchste Zeit für einen Paradigmenwechsel: „Wenn es Secondhand-Kleidung und -Mobel in die Mitte der Gesellschaft geschafft haben, warum ist das im Bausektor noch so eine Seltenheit? Es braucht Projekte, die zeigen, was möglich ist. Und das versuchen wir.“

Warum ist Secondhand im Bausektor noch eine
Seltenheit?

Lisa-Marie Schmidt, Bauherrin

Kreislaufwirtschaft ist ein Sammelbegriff, bei dem es darum geht, altes Material als Ressource wahrzunehmen und damit nachhaltige Stoffkreislaufe zu schließen. Was einfach klingt, bedeutet allerdings in der Realität einige Herausforderungen. Denn über die Jahre sind Strukturen gewachsen, die solche Losungen nicht berücksichtigen. Gerade zu Beginn etwa warfen die nötigen behördlichen Genehmigungen für U10 viele Fragen auf. „In Kassel gibt es bereits eine Handvoll Projekte in Holzbauweise. Deren Erfahrungswerte haben uns sicherlich zum gewissen Grad den Weg bereitet. Die Bauhöhe des U10 stellte uns allerdings vor bürokratische Hindernisse, die wir nur mit Überzeugungskraft und Geduld überwinden konnten.“

Alle Beteiligten gehen für U10 neue Wege. Ein Beispiel: Die Fassade besteht aus Faserzementplatten. Sie wurden wegen optischer Mangel vom Hersteller ausgemustert. Mit bereits vorhandenem Material zu planen, stellte den herkömmlichen Planungsprozess auf den Kopf. Plötzlich lautete die Devise: Arbeiten mit dem, was da ist. „Es dauerte eine Zeit, bis wir gemeinsam die perfekte Aufteilung der Platten ausgetüftelt hatten. Dabei haben wir einiges gelernt.“ Bei manchem Gewerk stößt die Gruppe sogar unerwartet auf Begeisterung: Die Sanitärfirma hat kein Problem damit, gebrauchte Heizungen zu montieren. „Am Ende sagte die Firma von sich aus, dass sie ihre Leistung sogar günstiger anbieten könne. Manchmal gehen ökonomische und ökologische Interessen also doch Hand in Hand“, sagt Mario.

Die günstigste Miete des Viertels

Die Hinterseite der Terrasse erlaubt den Blick auf einen Teil des restlichen Viertels. In seiner Mitte steht noch das historische Brauerei-Sudhaus von 1890. Drumherum ist ein lebendiges Stuck Stadt gewachsen, mit Laden, Restaurants, Buros und Wohngebäuden. Die Vielfalt sei nicht nur oberflächlich, sondern schlage sich auch in den Finanzierungskonzepten dahinter nieder, erzählt Lisa-Marie. Die Architektin hat die Erfahrung gemacht, dass nicht allein die Finanz- und Rechtsstruktur von Bauprojekten deren Nachhaltigkeit beeinflusse, sondern auch die Gemeinschaftsbildung im Viertel. „Aktuell hören wir uns nach Wohngruppen um, die hier einziehen mochten. Flächen wie die Dachterrasse haben wir so gestaltet, dass sie sich den Bedürfnissen einer Gruppe anpassen lassen. Wir wissen, dass die Nachfrage für diese Art des Wohnens zunimmt, aber noch auf ein geringes Angebot trifft. Konventionelle Investoren bauen ihre Hauser eben nicht so.“

Gemeinschaftliches Wohnen bedeutet, dass alle Mieter*innen sich die Kosten für die gemeinsamen Flachen teilen. Für die Berechnung des Mietpreises steckte die Baugruppe lange die Köpfe zusammen, erzählt Mario. „Wir haben uns am niedrigsten Preis orientiert, den wir verkraften wollen, statt daran, was wir bei dem aktuellen Marktpreis rausholen konnten. Mit elf Euro pro Quadratmeter werden wir die günstigste Miete im neuen Stadtviertel verlangen. Das liegt unter dem benachbarten sozialen Wohnungsbau.“ In der Uhlandstraße gehen die Straßenlaternen an. Die Baugruppe versammelt sich vor dem Haus. Die Fassade sieht so gut wie fertig aus. Aber alle wissen: Dahinter wartet noch einiges an Arbeit, damit ihre Vision vom zirkulären Bauen Realität wird.

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