Natur, Kapitalismus und das Neue – Interview mit Reinhard Loske

Gastbeitrag: von Frank Augustin, Mitgründer des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42 und Tanja Will. Der Text ist eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Interviews mit Reinhard Loske aus der Ausgabe NATUR UND WIRTSCHAFT des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42.

Welche Bedeutung hat die Natur in der Wirtschaft?

Kapitalismus und das Neue - Interview mit Reinhard LoskeIn der Ideengeschichte der Ökonomie gibt es ganz verschiedene Naturvorstellungen. Die Physiokraten waren der Meinung, dass die Natur der einzige produktive Faktor ist: Nur Grund und Boden können der Ursprung des Reichtums eines Landes sein. Demgegenüber ist die Natur im Marxismus wie auch im Kapitalismus auf die Funktion der Quelle und der Senke reduziert, wird also bloß als Ressource oder als Aufnahmemedium für Abwässer, Abgase und Abfälle begriffen. Der Gedanke, dass die Wirtschaft auf die physischen Grundlagen bezogen ist, ist also bei den Physiokraten viel stärker ausgeprägt. Der Marxismus und der Kapitalismus neigen systematisch dazu, die Rolle der Natur bei der Wertschöpfung zu reduzieren oder gar auszublenden. Man kann also von einer Naturvergessenheit der ökonomischen Theorie der Moderne sprechen.

Ist es dann zu begrüßen, wenn die ökonomische Bewertung der Natur immer mehr an Bedeutung gewinnt?

Das ist ein schmaler Grat. Auf der einen Seite ist es zu begrüßen, wenn man sich bewusst macht, dass die Natur uns zahlreiche Güter und Dienstleistungen gratis zur Verfügung stellt – stabiles Klima, gutes Wasser, saubere Luft, produktive Böden, biologische Vielfalt etc. Doch man läuft auch Gefahr, dass man sich in diese instrumentelle beziehungsweise utilitaristische Sichtweise verrennt. Dann geht das Unwägbare in der Natur verloren, all das, was eine besondere Saite in uns zum Schwingen bringt. Das ist ein echtes Defizit. Insofern braucht es eine umfassendere Ökonomie, die auch dieses Unwägbare miteinbezieht, ohne es direkt in Wert zu setzen oder ihm eine Dienstleistungsfunktion zuzuschreiben.

Wie würden Sie den heutigen Umgang mit Natur beschreiben?

Hier gibt es zwei Konzepte. Dem ersten Konzept zufolge stellt Ökonomie nun einmal einen Eingriff in die Natur dar, der unvermeidlich und prinzipiell zu akzeptieren sei. Dementsprechend ist es vollkommen legitim, der Natur so viel wie möglich an Wildnis zu entziehen, um die Welt nach unserem Bild zu formen. Dann weist man – aus nostalgischen Gründen – zehn oder 20 Prozent der Fläche als Naturschutzgebiete aus, auf denen der Mensch bestenfalls als Wanderer oder Tourist etwas zu suchen hat, und bewirtschaftet dafür die restlichen 80 Prozent der Fläche umso intensiver und effizienter. Das ist das amerikanische Konzept. Stellt allerdings Effizienz das höchste Kriterium dar, läuft man Gefahr, langfristige Stabilität zugunsten kurzfristiger Renditeoptimierung zu opfern.

Dem anderen Konzept liegt der Gedanke zugrunde, dass wir generell so wenig wie möglich in die Natur eingreifen und versuchen sollten, unsere Wirtschaft in Einklang mit ihr zu bringen. Man orientiert sich dabei an der Vorstellung, wie es wohl gewesen sein mag, als der Mensch noch keinen so großen Einfluss auf die Gestaltung der Natur hatte. Das Problem hierbei ist, dass man in der Realität nicht ignorieren kann, dass es so etwas wie eine ursprüngliche Natur längst nicht mehr gibt.


Ich würde als Dialektiker sagen, dass wir beides brauchen: Einerseits müssen wir so wirtschaften, dass die Natur nachhaltig genutzt wird, und andererseits müssen wir sie in ihrer Einzigartigkeit bewahren. Das steht schon in der Genesis: „Bebauen und bewahren“. Dieses Verhältnis zwischen Bebauen und Bewahren zieht sich auch durch die ganze europäische Ideengeschichte, angefangen bei den Griechen in der Antike über Karl Marx bis heute. Marx sagte: Wir sind nicht die Eigentümer der Erde, wir nutzen sie nur und müssen sie verbessert an die nächste Generation weitergeben. Auch im sogenannten Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen von 1987 wird nachhaltige Entwicklung entsprechend definiert: Um die Bedürfnisse der heutigen Menschen zu befriedigen, müssen wir die Natur so nutzen – bebauen –, dass gleichzeitig den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit gelassen – bewahrt – wird, ihrerseits ihre Bedürfnisse erfüllen zu können.

Nun ist Nachhaltigkeit zwar ein großes Thema, aber im Zweifel zählt dann die Rendite. Ist Nachhaltigkeit im Kapitalismus überhaupt möglich?

Das ist eine ganz alte Diskussion. Als ich 1999 meine Habilitationsschrift bei Elmar Altvater vorlegte, sagte er zu mir: „Das ist ja ganz nett, Reinhard, aber du kannst nicht von Nachhaltigkeit reden und von Kapitalismus schweigen. Kapitalismus bedeutet Wachstum und Wachstum verhindert Nachhaltigkeit.“ Wir haben darüber viel diskutiert. Ich glaube bis heute, dass es auch innerhalb des Kapitalismus Bereiche gibt, in denen neue Praktiken eingeübt und neue Technologien entwickelt werden können, kurz: wo wirklich Neues entsteht. Wichtig ist aber, dass die Politik die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass diese Ideen auch in den Mainstream hineinwachsen können. Bei technischen Innovationen hat das funktioniert: Die erneuerbaren Energien sind in den 70er-Jahren von Tüftlern, Freaks und Landkommunarden entwickelt worden. Mittlerweile liegt ihr Anteil an der Stromerzeugung bei 40 Prozent. Jetzt geht es darum, nachhaltige soziale Praktiken politisch zu fördern – ob dies das Teilen betrifft, kollaborativen Konsum oder Prosumentennetzwerke.

Aber lassen sich derartige Praktiken im Kapitalismus wirklich allgemein durchsetzen? Jeremy Rifkin ist beispielsweise der Ansicht, dass Sharing, Prosuming, collaborative consumption und das Internet der Dinge wettbewerbsorientierte Grundmuster peu à peu durch kooperative Grundmuster ersetzen und so der Kapitalismus langfristig von selbst verschwinden wird. Auch wenn das zu wünschen wäre, kann ich das nicht glauben! Ohne Kämpfe und harte Auseinandersetzungen – die nicht unbedingt wie eine Revolution im klassischen Sinne ablaufen müssen – wird es definitiv nicht gehen. Dem Kapitalismus wird auf absehbare Zeit nicht von selbst die Luft ausgehen.

Wenn es keine Barrikadenkämpfe geben soll, muss dann die Politik den Wandel entschlossener vorantreiben?

Wenn man wählen kann zwischen change by design und change by disaster, dann hat man als friedliebender Mensch natürlich eine Präferenz für change by design, also für vernunftgelenktes Umdenken und Umlenken. Idealerweise ist dies auch der Weg, den wir in einer Demokratie gehen können. Ob das allerdings ausreicht, kann ich nicht sagen. Die Geschichte ist immer eine Mischung aus change by design und change by disaster. Mit Blick auf die drei wichtigen Bereiche Energie, Mobilität und Landwirtschaft befürchte ich, dass wir auch hier wieder beide Muster zu sehen bekommen. Bei aller Kritik an der Energiewende hat die Politik doch im Bereich Energie durch das EEG einen Wandel durch Gestaltung hinbekommen. Bei der Mobilität aber sperrt sich die Politik gegen sämtliche innovativen Konzepte und es werden keine Anreize für wirkliche Veränderung geschaffen. Stattdessen werden die Automobilkonzerne protegiert. Aber ich bin überzeugt davon, dass die schützende Hand der Politik den notwendigen Wandel nicht wird verhindern können. Vielmehr wird dieses Verhalten dazu führen, dass die Automobilindustrie in eine ganz tiefe Krise gerät: change by disaster. Auch in Landwirtschaft sehe ich es ähnlich. Die Wende muss kommen, aber anstatt ökologisch und sozial sinnvolle Konzepte zu fördern, werden Konzepte am Leben erhalten, die keine Zukunft haben.

Ist es nicht an der Zeit, seitens der Politik auf die Bevölkerung zuzugehen und ihr offen und ehrlich zu sagen, dass grundlegende gesellschaftliche Veränderungen einfach unvermeidbar sind?

Mittlerweile glaube ich, dass wir an einem Punkt sind, an dem die Leute geradezu danach lechzen, die Wahrheit zugemutet zu bekommen. Doch davor schrecken viele Politiker zurück, weil es der nächste logische Schritt wäre, Zumutungen zu formulieren, auch in voller Härte. Wahrscheinlich tun sie das zu Recht, denn auch wenn sich alle nach Ehrlichkeit in der Politik sehnen, so sind die wenigsten dazu bereit, die Konsequenzen mitzugehen und sich von den alten Gewohnheiten zu verabschieden. So kommt es, dass das, was getan werden muss, und das, was getan wird, heute nicht zusammenpasst.


Hat das auch etwas mit dem Alter der Entscheidungsträger zu tun? Fehlen in wichtigen Positionen junge Leute, die weniger in Gewohnheiten und Denkmustern feststecken?

Ich leite gerade ein Seminar über Future Democracy, in dem wir uns mit der Frage beschäftigen, wie die gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen zukunftsorientiert ausgerichtet werden können. Das Problem ist ja, dass die Wähler immer älter werden und die Distanz zur Rente immer kürzer wird. Entsprechend stellen die Parteien eher Fragen der Alterssicherung oder der öffentlichen Sicherheit in den Vordergrund. Dagegen beschäftigen sie sich weniger mit Themen wie Bildung, Umwelt, Digitalpolitik oder Familie, Themen, die junge Menschen bewegen. In diesem Seminar haben wir verschiedene Konzepte entwickelt, was man dagegen machen kann; also etwa das Wahlrecht auf die Kinder ausweiten, deren Eltern dann für sie mitwählen würden; oder die Stimmengewichtung so verändern, dass die Stimme junger Menschen doppelt zählt. Derartige institutionelle Neuregelungen könnten jungen Menschen und Familien wieder mehr Gewicht und politischen Einfluss geben.

Müssen die Jungen an die Macht, wenn sich etwas verändern soll?

Letzten Endes geht es mir um eine gute Balance, also nicht nur darum zu fordern: „Die Jungen an die Macht“, sondern darum, eine gute Mischung hinzubekommen. Alles andere klingt mir zu sehr nach Generationenkrieg. Es war schon immer so, dass die Sechzigjährigen die Zwanzigjährigen regieren. Das hat damit zu tun, dass – wenn’s gut läuft – ein Sechzigjähriger ein bisschen weiser ist, in sich ruht und nicht jeden Tag zeigen muss, dass er der Größte ist. Das heißt, ein umfassendes Verständnis von Weisheit setzt auch ein gewisses Alter voraus. Die Grundannahme, dass junge Menschen per se zukunftsorientierter als alte Menschen seien, ist für mich nicht haltbar. Es gibt eben auch diesen Typus junger Menschen, der sich maßlos überschätzt, der noch nichts Richtiges gemacht hat und nach dem Studium am besten direkt in eine Führungsposition hineinwill.

Deshalb finde ich es am wichtigsten, dass man die Menschen – unabhängig vom Alter – zu eigenem Denken befähigt. Man muss Räume schaffen, in denen kritisches Denken gefördert wird. Aber es darf nicht bloß um Kritik gehen, also darum, präzise beschreiben zu können, wo die Fehler liegen, sondern es muss auch praktisches Wissen gefördert werden, also handlungsorientiertes, transformationsorientiertes und moralisches Wissen.

Herr Loske, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Frank Augustin und Tanja Will.

[green_box]Utilitarismus: Utilitarismus (von lat. utilitas: Nutzen): Theorie, der zufolge der Wert einer Handlung (Aktutilitarismus) oder einer Regel (Regelutilitarismus) ausschließlich nach ihren Folgen bewertet wird. Bewertungsmaßstab ist der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften beschreibt „Nutzen“ die Fähigkeit eines Gutes, die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen. Im mikroökonomischen Verständnis dient der Nutzenbegriff in erster Linie als Erklärungsmodell für individuelles Konsumverhalten.[/green_box]

Reinhard Loske, Jahrgang 1959, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er 1980 mit dem Studium Wirtschafts- und Politikwissenschaften an den Universitäten Paderborn, Nottingham und Bonn begann. Von 1992 bis 1998 arbeitete am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. 1996 promovierte er am Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Kassel mit einer Arbeit über „Klimapolitik im Spannungsfeld von Kurzzeitinteressen und Langzeiterfordernissen“. 1999 erfolgte die Habilitation in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über „Nachhaltigkeit als Politik“.

Er war von 1998 bis 2007 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem stellvertretender Fraktionsvorsitzender und umweltpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. Von 2007 bis 2011 war er Senator für Umwelt, Bau, Verkehr und Europa der Freien Hansestadt Bremen. Seit 2013 hat er eine Professur für Politik, Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der Universität Witten/Herdecke inne. Seit Februar 2019 ist er Präsident der Cusanus Hochschule.

Zuletzt von ihm erschienen:
Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende (Fischer Taschenbuch, 2015), The Good Society without Growth. Why Green Growth ist not Enough (Basilisken-Presse, 2013)

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[dark_box]Natur, Kapitalismus und das Neue - Gekürzte Fassung des Interviews mit R. Loske aus der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins agora42.agora42 ist das philosophische Wirtschaftsmagazin. Die Themenhefte widmen sich den großen Fragen der Ökonomie wie etwa Wachstum, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit oder Geld – anspruchsvoll und verständlich. Ökonomie ohne Philosophie ist leer. Denn was ist der menschliche Bedarf? Wer bestimmt die Ziele? Was ist Wohlstand? Geht es auch ohne Wachstum? Philosophie hingegen, die sich um die ökonomischen Gegebenheiten nicht schert, ist blind für das tatsächliche Leben der Menschen. agora42 ist die unabhängige Plattform für Positionen, Austausch und Visionen. Die aktuelle Ausgabe zum Thema: „NATUR UND WIRTSCHAFT“ ist nun erhältlich. Mehr Infos unter: agora42.de [/dark_box]

Foto: frank mckenna

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