Erstmalig in einer Flüchtlingskrise stellen Privatpersonen bundesweit einen großen Teil der Unterkünfte zur Verfügung. Auslöser war eine Idee von dem Start-up elinor und der GLS Bank: die Plattform Unterkunft Ukraine.
von Nicole Zepter
An dem Morgen, als Russland in die Ukraine einmarschiert, sitzt Lukas Kunert, 30, im Zukunftsdorf Sonnenerden mit seinen Mitbewohner*innen beim Frühstück. Er ist, wie viele Menschen, entsetzt, fühlt sich ohnmächtig. Dennoch ist ihm klar, dass er dieser Gewalt etwas entgegensetzen möchte. Kunert ist Osteuropa familiär verbunden, seine Frau kommt aus Russland, kennengelernt haben sie sich in der Ukraine. Normalerweise unterstützt er mit seinem Start-up elinor solidarische und politische Initiativen durch Gruppenkonten. Etwa als Anfang 2019 Fridays for Future mit Bußgeldverfahren bedroht wurde, starteten sie einen Solidarfonds mit breiter Unterstützung aus der Bevölkerung.
Doch der heutige Tag soll nicht nur ihn, sondern auch elinor verändern. Beim Mittagstisch im Zukunftsdorf ruft Falk Zientz von der GLS Bank an, der auch im Aufsichtsrat von elinor ist. Er erlebt die gleiche Betroffenheit auch in der GLS Bank und erzählt: „Viele Menschen suchen den Austausch, um erst einmal für sich klar zu bekommen, was da eigentlich passiert: Krieg in Europa.“ Daraus entstand eine Idee: Wenn wir schon die Gewalt nicht verhindern können, dann teilen wir zumindest unser Zuhause mit Geflüchteten. Als Zientz in Sonnenerden anruft, stellt Kunert das Telefon laut: „Es werden Leute kommen, die eine Unterkunft brauchen. Können wir etwas tun?“
Sie können. Schon am selben Tag, am Donnerstagabend, geht die Seite unterkunft-ukraine.de online. Erschaffen vom elinor-Team. Die Social-Media-Aktivitäten beginnen sofort, auch von reichweitenstarken Unternehmen wie einhorn. Die GLS Bank geht damit am Freitag online – und der Server bricht wegen Überlastung zusammen. „Nach 24 Stunden waren es 300 Unterkünfte, nach zwei Tagen ein paar Tausend“, erinnert sich Kunert. In kurzer Zeit entsteht daraus das bislang größte zivilgesellschaftliche Angebot für Geflüchtete hierzulande. Es zeigt auch, was einzelne Menschen in globalen Krisen stemmen können.
Kunert und Zientz arbeiten Hand in Hand. Das Moderne, so Kunert, sei die Geste, der Kriegslogik etwas entgegenzusetzen – die unmittelbare Hilfe von Mensch zu Mensch. Und er ergänzt: „Die Tür zu öffnen, das eigene Private zurückzustellen, um Platz zu machen, ist eine Ebene, die politisch ist.“ Dass es jedoch so schnell viral geht, hätte niemand im Team gedacht. Damit wird auch klar: Das schaffen wir nicht mehr mit der (wo)manpower von elinor. Gemeinsam wird am Samstag nach geeigneten Organisationen gesucht. Felix Oldenburg, ehemaliger Generalsekretär des Stiftungsverbandes, der mit der GLS Bank einige Jahre lang das Mission Investing Forum gestaltet hat und der jetzt Vorstand von gut.org/betterplace ist, bietet spontan seine Hilfe und sein Team an, um die Vermittlung der Unterkünfte zu übernehmen. „Mit gut.org haben wir einen Partner gefunden, der auch sonst anderen NGOs dabei hilft, ihre Arbeit besser und leichter machen zu können“, erzählt Kunert. Am Sonntag berichtet stern.de über die Aktion, das erste reichweitenstarke Medium. Weitere Journalist*innen und auch erste Politiker*innen fragen nach. Bis Montag, nach nur vier Tagen, steigt die Anzahl der angebotenen Plätze auf über 60.000. Am Berliner Hauptbahnhof beginnen die Sozialgenossenschaft Karuna und selbst organisierte Helferinnen damit, die Geflüchteten mit dem Nötigsten zu versorgen, auch mit Unterkünften von der Plattform. Zientz: „Das waren sehr berührende Begegnungen von Menschen, die eben auf ihrer Flucht hier ausgestiegen sind, mit ihren neuen Gastgebenden. In Worten konnten sie sich noch kaum verständigen, aber die Gesten zählen.“
In den folgenden Tagen starten weitere Kooperationen, um die Sicherheitsstandards der Webseite und die Kommunikation auszubauen. „Wir kooperierten schnell über alle Grenzen hinweg“, so Kunert. Auch der Staat und die Privatwirtschaft kommen an Bord: Das Innenministerium wird offizieller Partner und es starten Kooperationen mit lokalen Flüchtlingshilfen und Kommunen. Mittlerweile unterstützen auch Unternehmen wie Boston Consulting, Ergo Versicherungen, die Sparkassen und Verimi die Plattform. Jeder bringt sich nach seinen Fähigkeiten ein: Verimi hilft etwa bei der Identifikation der Gastgeber*innen, Ergo sichert für alle Geflüchteten, die über Unterkunft Ukraine ein Zuhause finden, kostenlos die Haftpflicht ab. „Wenn Geflüchteten etwas in der Unterkunft kaputt geht, gerade, wenn man mit vielen Kindern reist, dann springt die Versicherung ein. Auch der Gastgeber ist dadurch geschützt“, so Kunert. Das sind Angebote und Ideen, die oft nur innerhalb einer Woche entwickelt wurden, ergänzt Zientz.
Mittlerweile haben über 35.000 Geflüchtete durch die Initiative eine Unterkunft gefunden, mehr als 160.000 Menschen in 150 Städten bieten Plätze an. Ist das jetzt ein Erfolg? Müssten es nicht viel mehr Vermittlungen sein, auch von langfristigen Unterkünften? Zwei Monate nach dem Start reflektiert Kunert selbstkritisch: „Es ist sehr schwer, die Bedarfe zu verstehen und zusammenzubringen. Zum Beispiel leben einige Menschen lieber in einer Turnhalle in Berlin als in einer eigenen Wohnung irgendwo auf dem Lande. Das Wichtigste ist ihnen die Nähe zu Verwandten und Freunden in dieser Zeit.“ Um für solche Bedarfe Lösungen zu finden, stößt eine digitale Plattform schnell an ihre Grenzen. Entsprechend sind viele lokale Initiativen zur Vermittlung von Unterkünften entstanden, die auch mit der Plattform kooperieren.
„Was wir jetzt brauchen“, so Kunert, „ist ein zweiter Akt, ein gemeinsames Zukunftsbild, um als Zivilgesellschaft gemeinsam mit den Geflüchteten über uns hinauszuwachsen. Sonst kann die Willkommenskultur kippen wie 2015.“ Es gehe darum, die Potenziale und die Möglichkeitsräume von Solidarität in den Blick zu nehmen und erlebbar zu machen. „In einer Zeit, in der Menschen akut durch den Krieg und globale Krisen verängstigt sind, kann eine solche Initiative auch eine positive Sogwirkung auf die ganze Gesellschaft haben.“
Dadurch wird auch die Hilfsbereitschaft in zukünftigen Krisen verändert werden, davon ist Kunert überzeugt: „Wir haben mit Unterkunft Ukraine etwas berührt, was niedrigschwellig ist, aber mehr ist als eine Geldspende.“ Er ergänzt: „Wir haben eine Entdeckung gemacht über eine zivilgesellschaftliche stille Reserve: das unmittelbar Menschliche, Hilfsbereitschaft.“
[green_box]Info zu unterkunft-ukraine.de
Unterkunft Ukraine ist eine Allianz nachhaltiger Organisationen, die eine solidarische Zivilgesellschaft unterstützen. Initiatoren sind Lukas Kunert (elinor GmbH) und Falk Zientz (GLS Bank). Die Koordination hat die gut.org gAG übernommen. Anliegen ist der Aufbau einer sicheren, langfristigen und partnerschaftlichen Lösung für geflüchtete Unterkunftsuchende. Bislang haben über 160.000 Menschen Unterkünfte angeboten.[/green_box]
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