Das Auto – Wir erleben derzeit das Ende der Automobilindustrie, wie wir sie kannten. Das hat auch mit moralischen Verfehlungen zu tun – aber nicht in erster Linie. Mit anderen Worten: Nur mit Betrügereien, wie sie häufig vorkommen, wo es um Geld und Einfluss geht, ist das absehbare Platzen der riesigen Autoblase nicht zu erklären. Es geht um Grundsätzlicheres.
Gastbeitrag: von Frank Augustin, Mitgründer des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42
Erstens und das große Ganze von Wirtschaft und Gesellschaft betreffend:
Zunächst dürfte nach den Kartellvorwürfen – unabhängig davon, wie viel sich davon bewahrheitet – vielen klarer geworden sein, dass wir nicht in einer Marktwirtschaft leben und es entsprechend auch viel weniger Wettbewerb gibt, als gemeinhin angenommen wird. Wir leben im Kapitalismus – und Kapitalismus bedeutet Konzentration. In Deutschland erwirtschafteten im Jahr 2011 weniger als ein Prozent der größten Unternehmen rund 66 Prozent aller Umsätze. „Großkonzerne tun alles, um den Wettbewerb möglichst zu vermeiden, indem sie fusionieren, kooperieren oder vertikal integrieren.“ (Ulrike Herrmann) In der Automobilbranche gibt es aber nicht nur große Player, die sich generell dem Wettbewerb entziehen, sondern nicht einmal unter diesen Riesen echten Wettbewerb. Man hat es also eher mit einem mächtigen, konzernübergreifenden Familienverbund zu tun, der mittels gegenseitiger Absprachen und zahlreicher Lobbyisten seinen Einfluss sichert und vergrößert. Das ist nicht nur unfair, weil man sich eine bequeme Position auf Kosten der Kunden und Zulieferer verschafft, sondern es erinnert in seinem Gebaren auch an das Selbstverständnis der Feudalherren in den vordemokratischen Gesellschaften. Ist man bislang über solches Verhalten naserümpfend hinweggegangen, wird es seitens der Kunden, Zulieferer und selbst der Politiker angesichts des nun bekannt gewordenen Ausmaßes der Absprachen künftig weitaus weniger Toleranz gegenüber den Autobauern geben. Es wurden Grenzen überschritten und es ist nicht zu erwarten, dass demokratische Prinzipien wegen einiger Profilneurotiker in die Tonne gekloppt werden – auch und gerade dann nicht, wenn diese wie trotzige Kinder mit dem Verlust von Arbeitsplätzen drohen, die ohnehin nicht zu retten sind.
Hinzu kommt, dass sich die Autobranche auch in anderer Hinsicht – Stichwort Abgasskandal – diskreditiert hat. Denn offensichtlicher als zuletzt kann man nicht demonstrieren, dass Profite und Machterhalt im Zweifel über die Gesundheit der Menschen wie generell über die Belange der Gesellschaft gehen. Dies hat fatale Folgen für das Image der Konzerne, und verrät viel über deren reduziertes Verständnis von Fortschritt. Wer glaubt noch daran, dass hier zukunftsweisende Innovationen entwickelt werden, die nicht nur die Branche, sondern letztlich auch der gesamten Gesellschaft zugute kämen? Was ist das für ein Fortschritt, der nur die einen finanziell fortschreiten, die übrige Gesellschaft jedoch hinter sich lässt?
Zweitens und entscheidend für den Niedergang der Autoindustrie:
Das Automobil hat sich überlebt, seine Faszination verloren. Dies gilt sogar für den Bereich der Sportwagen, wo die Fahrzeuge inzwischen durch die Bank derart perfekt und potent geworden sind, dass sie nur auf der Rennstrecke ausgefahren werden können – und auch dort immer weniger fahrerisches Talent verlangen. Generell spielt sich das Meiste ohnehin nur noch im Kopf der Sportwagenbesitzer ab („Wenn ich richtig schnell Auto fahren könnte und eine Rennstrecke zur Verfügung hätte, dann…“; oder: „Ich bin 1,3 Sekunden schneller auf der Rennstrecke als mit dem Vorgängermodell“ etc.). Viel Kopfkino also, wo einst der ganze Körper beteiligt war, wo das Fahrerlebnis einen mitgerissen hat und das Limit durch persönlichen Einsatz und Mut definiert wurde. Das ist generell die Tendenz beim Auto: Immer mehr Kopf, immer mehr Rationalität, wo früher erst mal Gefühl war. Im Motorsport geht es seit Jahrzehnten nur noch darum, schnelleres Fahren durch alle möglichen technischen Beschränkungen zu verhindern – vollkommen absurd. Man will schneller werden, bremst sich aber gleichzeitig aus? Technik macht schneller und langsamer zugleich?
Diese Widersprüchlichkeit ist typisch für das Auto geworden. Das liegt eben daran, dass man nicht mehr bedingungslos hinter ihm steht; man versucht, den Kopf einzuschalten, um seine alte Liebe zu retten – eine Liebe, die aber längst verblasst ist.
Kopfgeburten ohne Ende sind die Folge: Nicht nur die Sportwagen sind inzwischen motorisch völlig überdimensioniert bzw. fahrwerksseitig und aerodynamisch overengineered. Ein normaler Autofahrer bringt auf der Landstraße heute auch einen VW Golf nicht mehr in die Nähe seines Limits. Bei den meisten älteren Fahrern täte es auch die Hälfte der vorhandenen PS oder auch viel weniger, wobei dann immer noch genügend Reserven vorhanden wären. Was soll das? Zumal die Straßen immer voller werden und die PS-Zahlen insofern eigentlich zurückgehen müssten. Dass überdies die Bedienung „moderner“ Autos immer komplizierter und die Übersichtlichkeit immer schlechter wird, sei am Rande erwähnt. Die vielverkauften SUVs schließlich zeigen, dass das Produktionsniveau bloß noch unter Aufbietung extremen Einsatzes von Fantasie seitens der Werber wie der Kunden aufrecht erhalten werden kann, die aus sinnfreien, hässlichen und viel zu schweren Fahrzeugen solche macht, die irgendwie dennoch den alten Traum von Freiheit und Fortschritt verkörpern. Kopf, Kopf, kompliziert: Man denkt nur noch in abstrakter Kategorien und in Zahlen, in Fahr- und Grenzwerten, in Gewinnen und Verlusten.
Doch Fantasie ist eine begrenzte Ressource und das Kopfkino benötigt reales Material. Deshalb kommt jetzt das Elektroauto. Dieses steht, jeder halbwegs informierte Mensch weiß es, nicht für die Zukunft des Autos, sondern für sein Ende als massenhaft produziertes sowie für die Konzerne profitträchtiges Fortbewegungsmittel. Geht es bloß noch darum, komfortabel von A nach B zu kommen, benötigt man dazu kein besonders individuelles, reizvolles Fortbewegungsmittel – eine simple E-Kiste genügt dann in den meisten Fällen. Und wer es sich leisten kann, betreibt eben Benzinautosport, so wie heute manche ihre Rennpferde bewegen. Und: Von den E-Autos benötigt man, klug vernetzt und bequem auf Abruf bereit, nur einen Bruchteil der momentan vorhandenen Fahr- bzw. Stehzeuge.
Es ließen sich noch viele Dinge aufzählen, welche die inneren Widersprüche veranschaulichen, in denen das Auto und seine Hersteller gefangen sind, doch für diese Skizze soll es genügen. Entscheidend ist ohnehin das Folgende: Das Auto war noch nie vernünftig, es war eine Passion. Und es war eine Passion, die vom Fortschrittsgedanken getragen wurde. Das Schneller-Besser-Weiter und die damit verbundene Ausweitung der persönlichen Spielräume hat das Auto vorangetrieben und profitabel gemacht. Das war natürlich oft ziemlich verrückt, aber auch verdammt gut, denn viele tolle, faszinierende Autos – und Rennfahrer – haben Menschen begeistert, ihre Besitzer wie jene von Kunstwerken mit Stolz erfüllt und die Kinder von diesen Kunstwerken träumen lassen. Wie viel Schönes rankte sich um dieses Wunder auf vier Rädern! Doch heute hat das Auto als Symbol einer vom technischen Fortschritt geleiteten Gesellschaft ausgedient. Immer öfter steht es für Einschränkung statt Befreiung, immer öfter dafür, die Zukunft zu verstellen und zu verschmutzen, in deren leuchtende Variante wir doch früher mit ihm gefahren sind.
Aber kann die ehemalige Liebesbeziehung nicht doch „vernünftig“ weitergeführt werden? Man muss sich doch nicht trennen, nur weil man sich nicht mehr liebt, oder? Den Todesstoß für diese Ausflucht besorgt jedoch das Wirtschaftssystem selbst, in dem das Auto groß geworden ist: der Kapitalismus – bzw. dessen ökologische Schattenseite. Unter ökologischen Gesichtspunkten, das heißt klima- und gesundheitsschädliche Gase, Ressourcen, Müll etc. betreffend, ist es das Sinnvollste, weitaus weniger neue Autos zu produzieren, weil im gesamten Produktionsprozess, also nicht nur beim Bau der Komponenten und deren Zusammensetzung, sondern auch bei der Anlieferung der Rohstoffe und Komponenten, beim Vertrieb etc., enorm viel Energie benötigt wird. Stattdessen sollten die Gebrauchten so lange wie möglich gefahren werden. Entsprechend wird künftig die Produktion von Ersatzteilen eine wichtige Rolle spielen, wobei neue Werkstoffe intelligent eingesetzt und die vorhandenen Fahrzeuge dadurch nicht nur erhalten, sondern sogar peu à peu verbessert werden könnten. Und in den Städten ist es ohnehin vernünftiger, autonom fahrende E-Kapseln einzusetzen sowie den öffentlichen Verkehr und die Radwege auszubauen.
Die ersten Anzeichen des Verblassens der großen Liebe zum Automobil haben aufmerksame Beobachter schon Anfang der 80er-Jahre bemerkt. Nicht umsonst verstärkte sich seitdem auch der Eindruck, man ruhe sich in den Autokonzernen auf seinen Erfolgen aus. Nun, bald 40 Jahre später, ist es Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und die Bevölkerung auf den großen Umbruch vorzubereiten, der mit dem Abschied vom traditionellen und in riesigen Stückzahlen produzierten Auto verbunden ist – ein Abschied, der im Herzen schon stattgefunden hat und nur in vielen Köpfen noch nicht angekommen ist.
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Foto: Denys Nevozhai
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