Gleich hinter dem Alexanderplatz wird in Berlin die Stadt der Zukunft erprobt: Institutionen der öffentlichen Hand und Initiativen aus der Zivilgesellschaft entwickeln zusammen ein Quartier im Sinne von Gemeingut, neuem Munizipalismus und sozialer Stadtrendite. Wenn es gelingt – und es sieht gut aus –, könnte das nicht nur Berlin verändern.
„Projektentwicklung Alexanderplatz“ steht auf der Visitenkarte von Ana Lichtwer, und die Projektleiterin von der Berliner Stadtmission der Evangelischen Kirche hat den Klassiker der modernen Großstadtliteratur natürlich studiert: „Armut, Verzweiflung, Vereinzelung – das machen wir alles immer noch so.“ Aus Lichtwers Sicht hat sich seit Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ (1929) nichts Wesentliches verändert. Aber ein Wandel, womöglich ein sehr wesentlicher, steht bevor, und Lichtwer ist mittendrin.
Wer heute Richtung Osten über den „Alex“ schlendert, bewegt sich aus einer eher tristen Konsumwelt, die auf ehemals repräsentative Gebäude der Hauptstadt der DDR aufgepfropft ist, zunächst mal zu großen Baugruben. Dort wächst eine weitere Investoren-Skyline, mit 130, eventuell 150 Meter hohen Häusern und der typischen Mischung aus (teurem) Wohnraum, Büros und Geschäften. Nun noch über eine Kreuzung, am Beginn der Karl-Marx-Allee, und plötzlich wird Stadt ganz anders gedacht.
Konrad Braun sitzt in der „Werkstatt“, einem Pavillon, der zum 50.000 Quadratmeter großen Komplex mit dem Namen „Haus der Statistik“ gehört, und sagt: „Als ich von dem Plan gehört habe, dachte ich, das wird nie was.“ Braun ist Vorstand einer Genossenschaft für Stadtentwicklung mit dem Titel ZUsammenKUNFT Berlin eG: ein Namensgebilde, in dem Zukunft aufscheint und ein Zusammen, das es so noch nicht gegeben hat.
Der Komplex war für Verkauf und Abriss ausgeschrieben, als 2015 eine Kunstaktion eine neue Richtung anstieß: „Hier entstehen für Berlin Räume für Kunst, Kultur und Soziales“, stand auf einem riesigen Plakat an der schon entkernten Betonfassade. Das Land Berlin kaufte, nach vielen Debatten, schließlich das Grundstück, um – neben anderen Nutzungen – tatsächlich genau diese Forderungen zu erfüllen. Die Partnerschaft Koop5 – vier Institutionen der öffentlichen Hand und die Genossenschaft als Organ der Zivilgesellschaft – sollte zum Modell einer Public-Civic-Partnership werden. „Das ist natürlich kein Spaziergang“, sagt Braun. „Es gibt Herausforderungen. Aber das Verfahren ist bislang erfolgreich.“
Die Partner innerhalb der Koop5 setzten zuerst ein „integriertes Werkstattverfahren“ in Gang, das – anstelle des üblichen anonymen Wettbewerbs von Planungsbüros – diskursiv und kooperativ auf einen Konsens zielte. Der Input aus Nachbarschaft und Genossenschaft wurde laut Braun „vollumfänglich eingearbeitet“. 20 Prozent der gut 100.000 Quadratmeter Nutzfläche (mit Neubauten) des Quartiers sollen im Sinne der Initiative geplant werden. Das Besondere daran ist nicht nur die Größe, sondern auch die gemeinsame Nutzung des Geländes mit der Stadt. Neben genossenschaftlichem Wohnen entstehen hier das neue Rathaus des Bezirks, das Finanzamt und Wohnbauten der Stadt.
Was die Genossenschaft im Sinn hat, zeigt sich im halb ironisch so genannten „Haus der Materialisierung“, einem Flachbau mit provisorischen Räumen. Hier zeigen Pioniernutzer, die später auch im fertigen Quartier arbeiten werden, ihre Ideen rund um Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft. Kleine Unternehmen, mitunter Einzelkämpfer, machen unter sprechenden Namen hilfreiche Sachen und laden ein zum Mittun. Da ist etwa „Farart“ – eine Selbsthilfewerkstatt für Räder und zugleich Kunstlabor aus abgelegten Ritzeln, Speichen und Ketten. „Cosum“ (aus „Konsum“ und „Co“) verleiht Werkzeuge und Geräte in der Nachbarschaft. Der „Textilhafen“ betreibt Upcycling von Kleiderspenden („Wir kriegen immer Bettwäsche, die keiner braucht.“). „Second Chance Berlin“ verarbeitet Segeltuch zu Taschen und Accessoires. Auch „Mitkunstzentrale“ und „Materialmafia“ finden neue Verwendung für alte Dinge. Andere Pioniergruppen beschäftigen sich mit Lebensmitteln, Theater, Musik und Bildung, wieder andere mit Organen lokaler Demokratie wie Nachbarschaftsräten. „Hier formiert sich eine Avantgarde“, sagt Lichtwer von der Stadtmission. Insgesamt bietet sich ein höchst vitales Abbild einer Stadtgesellschaft, die ihre Belange auf allen Ebenen selbst in die Hand nimmt, getragen von Offenheit und großer Ernsthaftigkeit.
Wie das dem Gemeinwohl dient, ist schon im provisorischen Stadium ganz offensichtlich. Vorne an der Otto-Braun-Straße kümmert sich der belarussische Verein RAZAM um Geflüchtete aus der Ukraine, zur anderen Ecke, an der Karl-Marx-Allee, macht ein „Salon Ukraine“ als Begegnungsort auf. Und im „Haus der Materialisierung“ tauchen die ersten aus dieser Gruppe auf, um zu reden und mitzumachen. Bei vielen Pionierprojekten ist der Effekt für die Gemeinschaft ebenso wichtig wie das eigentliche Thema.
Die Zusammenarbeit mit der Stadt ist, jedenfalls vonseiten der ZUsammenKUNFT, theoriegesättigt und ruht auf vielen Erfahrungen. Braun ist Co-Autor eines „Glossar zur gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung“, das auf der Webseite des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) zum Download bereitsteht. Hier geht es um Begriffe, die überall wichtig werden, wo Stadtentwicklung nicht einfach den Marktkräften überlassen wird. „Aneignung“ etwa, definiert als „bewusste und regelmäßige Nutzung eines Ortes innerhalb oder auch außerhalb der geltenden Regeln“: „Das haben wir hier schon mit der Kunstaktion ganz zu Anfang gemacht“, sagt Braun. Allerdings bald darauf legitimiert mit einer Nutzungsvereinbarung, die heikle Frage um das Thema „Eigentum“ kam gar nicht erst auf. Auch „system change“, das in dieselbe Richtung zielt, passe nicht: „Wir nennen das ‚Public-Civic-Partnership‘.“
Ein Schlüsselbegriff ist Munizipalismus, für Braun umfasst das „neue Formen des Regierens, des gemeinsamen Handelns, zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung“. Was beim „Haus der Statistik“ erprobt wird, könnte schon bald skaliert, also auf andere Projekte vervielfacht werden. Naheliegende (und ehrgeizige) Berliner Ziele wären Tempelhof und das Kongresszentrum ICC. Skeptiker werden da wieder auf die Einnahme verweisen, die der Stadt entgeht. Braun sieht dabei eine „falsche Logik“ am Werk: „Was hilft die einmalige Einnahme, wenn das die Stadt nicht zukunftsfähig macht? Unser Anliegen ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung über die Verwendung von öffentlichen Ressourcen auch durch Bürgerinnen und Bürger.“
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