Von der Peripherie ins Zentrum

Schwerpunktthema | Raum für Vielfalt

Wie lässt sich das Gute mit dem Nützlichen verbinden? Aus dieser Überlegung heraus entstand das „Projekt Lebensort Vielfalt am Ostkreuz“ in Berlin: Dort haben inzwischen 30 queere Menschen mit Betreuungsbedarf ein temporäres Zuhause gefunden, darunter auch Geflüchtete.

von Kristina von Klot

Wenn die Morgensonne Tische und Stühle im Eckcafé beleuchtet, ist der erste Menschenstrom bereits im S-Bahnhof Ostkreuz verschwunden. Tattoo-Studio, Ramen-Imbiss und Späti auf der Neuen Bahnhofstraße haben noch geschlossen. Mitten im Gründerzeitviertel erhebt sich ein lichter Neubau mit Regenbogenfahne an der Fassade. Über die gesamte Breite des Gebäudes zieht sich ein Balkonband: mit Tischen, Stühlen und Pflanzen wie bei den Altbauten gegenüber, die Austritte jedoch nicht getrennt, sondern wie ein schmaler Wandelgang miteinander verbunden.

„So wird nach außen Transparenz signalisiert – und dass wir ein Teil der Gesellschaft sind“, erklärt Architekt und Mitinitiator Christoph Wagner die gestalterische Idee. „Weil dank der Balkone die Zimmer auch über die Fassade begehbar sind, entsteht mehr Bewegungsfreiheit.“ Berlin-Friedrichshain, wo das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe zum Alltag gehört, sei der ideale Standort: „Je offener die Architektur, desto uninteressanter die Frge, was als normal gilt. Das schert hier ohnehin niemanden.“ Gemeinsam mit seinem Partner, dem Künstler Ulrich Vogl, und Marcel de Groot, Leiter der Schwulenberatung Berlin, initiierte Wagner 2016 das integrative Wohnprojekt Lebensort Vielfalt am Ostkreuz. Zurzeit bietet es 30 homo-, bi-, trans- und intersexuellen Menschen (LSBTI*) mit Betreuungsbedarf eine temporäre Heimat, darunter auch Geflüchtete.

Architekt Christoph Wagner rief das Wohnprojekt ins Leben und gestaltete das Haus.
Architekt Christoph Wagner hatte gemeinsam mit dem Künstler Ulrich Vogel (nicht im Bild) die Idee zu dem Wohnprojekt und gestaltete das Haus.
Marcel de Groot ist Leiter der Schwulenberatung Berlin und hat das Modellprojekt mitentwickelt.
Marcel de Groot ist Leiter der Schwulenberatung Berlin und hat den „Lebensort Vielfalt“ mitentwickelt.

Die Initiatoren sitzen heute im Erdgeschoss des Hauses am großen Tisch eines Raumes, in dem sich sonst Sozialarbeiter*innen untereinander oder mit Bewohner*innen austauschen. Wochenpläne erinnern an regelmäßige Treffen– unter anderem übertitelt mit „KommaKeller!“. Durch das Fenster zum Hinterhof fällt der Blick auf eine große Kastanie, deren Aste Holzbänke beschatten. Zweck von Lebensort Vielfalt sei es, Wohnraum für Minderheiten zu schaffen, die auf dem Berliner Mietmarkt ansonsten wenig Möglichkeiten hatten und nicht selten an die Peripherie ausweichen müssen, betont Wagner. „Wer ein Leben lang an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird, sollte auch mal die Chance haben, zentral, gut angebunden und in einem interessanten Kiez zu wohnen.“

Projekt mit Modellcharakter

Am Anfang stand der Gedanke: Wie lässt sich das Gute mit dem Nützlichen verbinden und etwas schaffen, was sonst vermutlich nie realisiert würde? Rückblickend habe das Projekt Modellcharakter, weil damit eine privat finanzierte soziale Einrichtung geschaffen wurde. Profitmaximierung sei kein Motiv gewesen. „Im Gegensatz zu anderen Bauträgern brauchen wir keine Gewinnmarge von 30 Prozent.“ Stattdessen habe er so geplant, „dass das Haus eine schwarze Null abwirft und unsere Rente zahlt“. Zudem finanzieren die Mieten die monatlichen Raten für das Darlehen der GLS Bank. Er selbst habe aufgrund seiner Homosexualität vielfach Diskriminierung erlebt. Geschützte Räume würden immer wichtiger. „Wir leben in einer Zeit, in der niemand weiß, wie es mit der Akzeptanz gegenüber Schwulen und Lesben weitergeht. Je mehr solcher Orte wir schaffen und je größer deren Sichtbarkeit, desto besser für unsere Community“, so Wagner.

Raum für Vielfalt

Vielfalt steht unter Druck, obwohl eine artenreiche Natur, eine diverse Gesellschaft und eine vielseitige Wirtschaft unverzichtbare Lebensgrundlagen bilden. Die GLS Bank schafft Raum für Vielfalt – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht. Unser Schwerpunkt zeigt, wo es schon gelingt und wo Herausforderungen liegen.

Seine Gedanken sind in die Gestaltung des Gebäudes eingeflossen, das er in Zusammenarbeit mit seiner Kollegin Wenke Schladitz entworfen hat: „Die Architektur sollte zugänglich wirken, aber zugleich auch für Sicherheit und Privatsphäre sorgen“, betont er. Nicht ohne Grund erschwerten die solide Eingangstür und Drahtgitter unterm Treppenhaus ein unerwünschtes Eindringen. Ebenso wichtig sei der zirkuläre Grundriss. Dadurch würden Wohnflächen flexibel nutzbar, Verbindungen von Innen und Außen geschaffen sowie ein großzügiges Raumgefühl, auch in der Vertikalen. Und das offene Treppenhaus am hinteren Teil des Gebäudes endet „nicht im Dunkeln“, sondern im fünften Geschoss in einem lichten Laubengang mit Blick Richtung Rummelsburger Bucht.

In den Wohnungen soll auch dank 2,90 Meter hoher Decken und heller Loggien der Eindruck entstehen, die Räume reichten weiter als nur bis zu den Wänden. „So wirkendiese auf niemanden bedrohlich“, sagt Wagner. „Erdrückende Wohnsituationen haben wir alle häufig genug erlebt.“ reichten weiter als nur bis zu den Wänden. „So wirken diese auf niemanden bedrohlich“, sagt Wagner. „Erdrückende Wohnsituationen haben wir alle häufig genug erlebt.“

Im eigenen Rhythmus

Von solchen Erfahrungen ist auch Hausbewohner Jimmy G. geprägt: ein ruhiger Mann im selbst genähten Outfit. Seit Mai 2024 nimmt der 45-jährige Künstler mit ADHS-Erkrankung sein Zimmer hier „wie ein Zuhause“ wahr, nachdem er sich in einer anderen Wohngemeinschaft „super gestresst und unsicher“ gefühlt habe. In Schweden auf dem Land aufgewachsen, litt er als schwuler Mann mit grönländischen Wurzeln unter Diskriminierung. Dass er als Kind mit dem Malen begonnen habe, helfe ihm bis heute, sich zu beruhigen. Er zeichnet und malt mit Acryl und Stiften auf Leinwand. Seine Bilder waren kürzlich Teil einer Gruppenausstellung in einer Schöneberger Galerie. In seinem Zimmer nutzt er den Raum unterm Hochbett als Atelier. Sein Traum ist es, Kostüme fürs Theater zu schneidern, „sobald es meine Gesundheit zulässt“. Am Lebensort Vielfalt schätzt er: „Die Menschen hier sind sehr unterschiedlich, das inspiriert mich. Alle leben nach ihrem Rhythmus, aber es gibt keinen Stress, auch nicht im Hinblick auf deine Sexualität. Niemand schaut dich komisch an – hier kannst Du sein, wie du dich fühlst!“

Offene Gemeinschaftsküche mit einer Kücheninsel und viel Licht von draußen.
Die Gemeischaftsküche.
Treppenhaus des Wohnprojekts, das hinten zum Garten rausgeht.
Die Architektur soll Offenheit und Sicherheit vermitteln, beides wichtige Aspekte für Bewohner*innen.
Auf dem Bild zu sehen ist ein mehrfarbiger Kreis vor gelbem Hintergrund. Der Kreis ist im Kern dunkelblau. Ihn umschließen weitere Kreise in pink, flieder und pink.

Schafft Bank Vielfalt?

Seit ihrer Gründung fördert die GLS Bank Vielfalt. Es ist eine Aufgabe, die nie abgeschlossen ist und die uns im Alltag herausfordert. Die Entwicklungsräume sind nahezu grenzenlos.

Die Bewohner*innen der Genossenschaft raumteiler stehen auf einer dreistöckigen Außentreppe und winken.

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Wie sich trotz vielfältiger Positionen, gemeinsam Entscheidungen im Interesse aller treffen lassen? Die raumteiler eG in Essen hat einen Weg gefunden.

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