Emillia Roig sitzt lachend an einem Holztisch, den Blick nach unten gerichtet, das linke Bein angewinkelt und mit beiden Armen umschlungen. Sie trägt ein pinkes Shirt zu hellblauer Jeans, ihre Haare offen und lockig.

Emilia Roig: „Radikale Fürsorge als Weg“

Schwerpunktthema |

Vielfalt als Lebensprinzip steht im Mittelpunkt der Arbeit von Bestsellerautorin Emilia Roig. Im Interview spricht sie darüber, was unsere Gesellschaft trennt – und verbindet.

Von Hannah El-Hitami

Ja, absolut. Es gibt eine tiefe Verbindung. In Ökosystemen ist Vielfalt das wichtigste Lebensprinzip – je vielfältiger ein System, desto stabiler und widerstandsfähiger ist es. Wird diese Vielfalt entzogen, stirbt das System ab. Genauso ist es in der Gesellschaft: Ohne Vielfalt verarmen wir, nicht nur kulturell, sondern auch menschlich und spirituell.

Dort werden Debatten über Vielfalt oft instrumentalisiert. Vielfalt gilt häufig als Mittel zum Zweck: um Profite zu steigern, neue Märkte zu erschließen oder das Image aufzupolieren. Doch wirkliche Transformation bedeutet, Vielfalt nicht nur als Aushängeschild zu nutzen, sondern sie in den Entscheidungs- und Machtstrukturen zu verankern – also in den Chefetagen und nicht nur an der Basis. Und sie bedeutet auch, kapitalistische Logiken infrage zu stellen: Warum soll ein Unternehmen ausschließlich Aktionären gehören? Es könnte ebenso gut kollektives Eigentum der Menschen sein, die darin arbeiten.

Es geht um Gerechtigkeit: Wir brauchen eine Gesellschaft, in der alle teilhaben, in der wir uns nicht in geschlossenen Milieus bewegen, sondern durch Begegnung wachsen. Vielfalt bedeutet, dass niemand ausgeschlossen wird – und dass wir lernen, mit- und voneinander zu leben.

Ja, Vielfalt ist nicht so bequem wie Homogenität. In einem Unternehmen, in dem bisher fast nur Männer gearbeitet haben, verschieben sich die Prioritäten, wenn Frauen dazukommen. In einer Gesellschaft, in der Care-Arbeit überwiegend von Frauen getragen wird, muss dieses Ungleichgewicht neu verteilt werden. Wenn mehr People of Color in einem Betrieb arbeiten, der zuvor fast ausschließlich weiß geprägt war, werden plötzlich rassistische Denkmuster sichtbar, die bearbeitet werden müssen. Auch in der Gesellschaft insgesamt gilt: Vielfalt zwingt uns, Privilegien zu hinterfragen, uns mit Unterschieden auseinanderzusetzen und Komfortzonen zu verlassen – genau darin liegt aber ihr transformierendes Potenzial.

Bestsellerautorin Emilia Roig ist promovierte Politologin und Expertin für Intersektionalität und systemische Ungleichheiten. Durch ihre Bücher sowie die Gründung des Berliner Center for Intersectional Justice (CIJ) prägt sie die Debatte über diese Themen seit Jahren maßgeblich mit (Foto: Mohamed Badarne). Mehr Informationen auf emiliaroig.com

Denkmuster, die die Überlegenheit bestimmter Gruppen behaupten. Rassismus und Sexismus gehören dazu – vor allem in ihren subtilen Formen, die schleichend wirken und oft unbemerkt bleiben. Menschen neigen etwa dazu, diejenigen zu bevorzugen, die ihnen ähnlich sind, oder Mitglieder dominanter Gruppen unbewusst positiver zu bewerten. Auch bei der biologischen Vielfalt zeigt sich dieses Denken: Wir haben die Natur zu einer externen Entität erklärt, die wir ausbeuten und zerstören dürfen. Im Kern steckt dahinter ein ähnliches Muster wie beim Rassismus: Eine selbsternannte Elite bestimmt, welches Leben wertvoll ist – und welches nicht. Die kapitalistische Vernichtung von Ökosystemen ist eine direkte Folge dieser Logik.

Der erste Schritt ist Bewusstsein. Wir müssen uns wieder als Teil der Natur begreifen – unsere Entfremdung von ihr macht uns krank, das zeigt auch die Mental-Health-Krise. Veränderung beginnt mit dem Willen, diese Trennung zu überwinden.

Das ist Teil unseres menschlichen Wesens. Wenn wir auf unsere echten Bedürfnisse hören, entsteht die Verbindung zu etwas Größerem fast von selbst.

Das Buch zeigt Wege, der Lebendigkeit mehr Bedeutung zu geben. Heute bestimmt Kapital, was wertvoll ist – wir müssen stattdessen das Leben selbst ins Zentrum stellen. Das ist eine radikale Veränderung, für die ich mit dem Prinzip radikaler Fürsorge plädiere.

Dass wir unseren Fokus verschieben: Im Moment ehren wir die Lebendigkeit unserer Umwelt nicht mehr. Stattdessen schenken wir unsere Aufmerksamkeit den falschen Dingen. Wir haben eine Sucht nach externer Bestätigung, materiellen Gütern und Konsum entwickelt. Wir müssen unsere Verbindung mit anderen Menschen und mit uns selbst wieder stärken. Mein Buch ist eine Anleitung, wie wir diese Verbindung sehen, ehren und nähren können.

Emilia Roig in einer Vortragssituation
Foto: Jan Zappner

Das hoffe ich. Wir haben einen Punkt erreicht, wo klar ist, dass die kapitalistischen Werte nicht mehr an die aktuelle Situation angepasst sind. Lange hatte jede Generation immer mehr als die davor – das ist nicht mehr so. Und das beeinflusst auch den Blick der jungen Generation auf die Zukunft. Sie schauen weniger auf Besitz, sondern stärker auf Sinn, Nachhaltigkeit und Gemeinschaft.

Eine Bank kann nicht antikapitalistisch sein. Sie kann aber versuchen, ethisch zu handeln und mit ihren Idealen eine Saat legen. Ich glaube, Veränderung ist organisch und multidimensional: Sie kann zugleich von oben und von unten kommen, revolutionär und in kleinen Schritten passieren.

Raum für Vielfalt

Vielfalt steht unter Druck, obwohl eine artenreiche Natur, eine diverse Gesellschaft und eine vielseitige Wirtschaft unverzichtbare Lebensgrundlagen bilden. Die GLS Bank schafft Raum für Vielfalt – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht. Unser Schwerpunkt zeigt, wo es schon gelingt und wo Herausforderungen liegen.

Auf dem Bild zu sehen ist ein mehrfarbiger Kreis vor gelbem Hintergrund. Der Kreis ist im Kern dunkelblau. Ihn umschließen weitere Kreise in pink, flieder und pink.

Schafft Bank Vielfalt?

Seit ihrer Gründung fördert die GLS Bank Vielfalt. Es ist eine Aufgabe, die nie abgeschlossen ist und die uns im Alltag herausfordert. Die Entwicklungsräume sind nahezu grenzenlos.

Integriertes Wohnprojekt: Lebensort Vielfalt

Das „Projekt Lebensort Vielfalt“ in Berlin verbindet das Gute mit dem Nützlichen: In dem Wohnprojekt finden queere Menschen mit Betreuungsbedarf ein temporäres Zuhause, darunter auch Geflüchtete.

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Deine GLS Anteile sind die Basis für unsere Kredite für nachhaltige Projekte und Unternehmen. Das Besondere: Jeder Anteil ermöglicht ein Vielfaches seines Werts an Krediten.

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Eine Antwort zu „Emilia Roig: „Radikale Fürsorge als Weg““

  1. Avatar von Matthias Losert
    Matthias Losert

    Deutschland ist eine repräsentative Demokratie und soziale Marktwirtschaft. Da Politik einen Markt mit Geld gewährt, regiert im Parlament der Kapitalismus mit:

    De facto; jede Ordnungspolitik verursacht gesellschaftliche Mehrkosten. Die Mehrkosten sind ein Wettbewerbsnachteil für Alle, die die Ordnungspolitik befürworten.

    Um das Regierungsparadox aufzulösen, könnte Politik auch das Erdsystem im Markt integrieren.

    Das ist ein volkswirtschaftliches Novum: die Staatsgewalt fordert im Markt Entwicklungen im Gütermarkt und fördert das Marktideal mit Steuersatzprogression. Gemäß dem Motto: je näher dem Marktideal, desto geringer der Steuersatz.

    Alle Staatsgewalt würde vom Volk ausgehen; sowohl über die Vermögensverteilung als auch über den Zustand vom Erdsystem. Die faktische Wirklichkeit der Natur würde gewährt; und nicht nur eine kapitalistische Schein-Wirklichkeit.

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