Tschernobyl, Klimakrise, Coronakrise, Staat und Zivilgesellschaft – Bankspiegel Chefredakteur Falk Zientz untersucht Ursachen, Wirkungen und Zusammenhänge.
Abgesperrte Spielplätze bei herrlichem Frühlingswetter und Rückzug in die eigenen vier Wände: Das hatten wir vor 34 Jahren schon einmal – nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die sich am 26. April wieder jährt. Die radioaktiven Wolken über ganz Europa machten damals vielen Menschen zum ersten Mal klar, dass wir über alle Grenzen hinweg miteinander verbunden sind und auch Risiken teilen. Ebenfalls in dieser Zeit betrat die „Zivilgesellschaft“ als ein neue Akteurin neben Staat und Wirtschaft die Weltbühne. Das war kein Zufall.
Tschernobyl: Ende der Sowjetunion, Anfang der Energiewende
Rückblickend sagte der sowjetische Staatspräsident Michael Gorbatschow: „Die Reaktor-Katastrophe war für den Zerfall der Sowjetunion entscheidender als die Perestroika. (…) Das System, wie wir es kannten, konnte nicht mehr weiterexistieren …“ Aus seiner Sicht lag das weniger an den ökonomischen Folgen, sondern insbesondere daran, dass durch Tschernobyl die Einführung der Meinungsfreiheit unumgänglich geworden war und damit das Entstehen erste Ansätze von Zivilgesellschaft.
In Deutschland wurden mit dem GAU zahlreiche Bürgerinitiativen gegen Atomkraft aktiv, etwa in Schönau im Schwarzwald die „Eltern für eine atomfreie Zukunft“. Viele Erfolgsgeschichten der Energiewende nahmen damals ihren Anfang, etwa die Übernahme des Stromnetzes durch die Schönauer „Stromrebellen“ in den 90ern, dann das Ende des Monopols für Konzerne wie EnBW und RWE bis hin zum Beschluss des Atomausstiegs.
Dass Tschernobyl das Ende der Sowjetunion und in Deutschland die Energiewende auslösen würde, war im Frühjahr 1986 noch nicht absehbar. Die Wirkungen der Krise gingen tiefer, als dies zunächst begriffen werden konnte. Das zeigten sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg: Es hat sich etwas im Grundgefüge der Weltgemeinschaft geändert. Treiber der Entwicklungen war immer wieder die Zivilgesellschaft, also weder der Staat noch die Märkte. Was heißt das für deren Rollen?
Der Staat als Retter in der Not
In Krisenzeiten gibt es meist eine große Zustimmung dafür, dass der Staat das Zepter übernimmt. Denn „der Markt“ – der sonst unsere Gesellschaften weitgehend bestimmt – hat dafür offensichtlich keine Lösungen. Also schnürt der Staat Rettungspakete, erlässt Verbote, richtet Expertenräte ein, u.a. Dies war auch 2008 während der „Finanzkrise“ so. Ganz selbstverständlich schien damals allen klar zu sein, dass der staatliche Eingriff irgendwann beendet sein wird und der Markt dann wieder das Sagen hat. So kam es auch, und die Konzerne und Banken legten bald wieder ungebremst los. Bis der Staat jetzt wieder seine Rettungsnetze knüpfen muss. So weit, so bekannt. Wie sieht es aber mit dieser Logik aus, wenn sich die Krisen weiter häufen?
Bereits jetzt ist absehbar, dass die Corona-Krise und die Klima-Krise ineinander übergehen werden. Das derzeit strahlende Frühlingswetter ist für uns im Lockdown zwar sehr angenehm, aber gleichzeitig wissen wir nur zu gut, dass dies für die Natur die nächste Dürre bedeutet. Wer sich mit der abnehmenden Biodiversität befasst, den aktuellen Klimakatastrophen, den Auswüchsen an den Finanzmärkten u.a., der/die braucht nicht viel Phantasie, um mit weiteren Krisen zu rechnen. Die Zeiten zwischen den Krisen, in denen der Staat wieder an den Markt übergibt – wird es diese überhaupt noch geben? Und wenn nicht: Landen wir dann unweigerlich beim chinesischen Modell? Also bei einer umfassenden staatlichen Steuerung von allen gesellschaftlichen Bereichen? Das scheint die logische Folge zu sein, wenn als Akteure nur der Staat oder die Märkte in Frage kommen.
Alternativen zum Überstaat
Seit Tschernobyl wurden neben Staat und Markt viele neue zivilgesellschaftliche Formate entwickelt: demokratische Beteiligungsformen wie die Bürgerräte; Konzepte wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, auch zur Ermöglichung von bürgerschaftlichem Engagement; netzpolitische Aktivitäten für digitale Freiheitsrechte und eine freie Wissensgesellschaft; die Idee der Gemeinwohlökonomie, so dass sich Ressourcenverschwendung nicht mehr lohnt; peer-to-peer-Plattformen und solidarische Gemeinschaften für gelebte Gegenseitigkeit; genossenschaftliche Alternativen zu den großen Konzernen; u.a. All dies wird in Krisenzeiten nicht mehr nur eine nette alternative Gegenkultur sein, sondern den Unterschied zu einer rein staatlichen Steuerung aller Lebensbereiche ausmachen. Gleichzeitig machen solche Formate die Gesellschaft widerstandsfähiger und erzeugen eine der wichtigsten Ressourcen der Zukunft: Vertrauen, soziales Kapital und Solidarität.
Zivilgesellschaft blüht auf
Was heißt das in der aktuellen Coronakrise? Für den 24. April ist seit Monaten der nächste globale Klimastreik angekündigt. Dieses Mal werden die Straßen leer bleiben – bei schönstem Frühlingswetter. Fridays for Future will als Kunstaktion immerhin einen Platz in Berlin füllen – nicht mit Menschen, sondern mit Demoschildern. Viele weitere Schilder und Transparente sollen an Balkonen und Fenstern zu sehen sein. Eine große Zahl von Aktionen wie #NetzStreikFürsKlima und #Klimaschrei findet im Netz statt. Trotz allem wird der Protest wohl nicht so eindrucksvoll sein wie die Klimademos im letzten Jahr.
Wir werden aber mit den Aktionen viele Erfahrungen sammeln, was funktioniert und was nicht – ein globales Prototyping. Diese laufende Weiterentwicklung der Formate macht die Zivilgesellschaft aus. Auch der Rückblick auf vergangene Krisen zeigt, dass ganz offen ist, was genau die zukünftigen Transformationen auslöst, und wodurch Strukturen wie damals die Sowjetunion oder die Energiemonopolisten letztlich kippen. Wenn dies aber geschieht, dann hat das etwas mit dem Aufblühen der Zivilgesellschaften zu tun – und wird damit den derzeit verpassten Frühling mehr als ausgleichen.
Titelfoto: Charlotte von Bonin, DSDJ e.V.
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