Wer eröffnet in Zeiten von Internet und Onlineversand noch einen Buchladen? In Rüsselsheim am Main haben Melanie Enders (25, im Bild links) und Sara Vazquez (30) genau das getan. Am 31. März 2015 eröffneten sie ihre Buchhandlung Kapitel 43.
Gegen den Trend
Dass sich ein neuer Buchladen in der Opelstadt tragen würde, davon waren die Rüsselsheimer Banken Ende 2014 nicht überzeugt. Vielleicht nachvollziehbar, hatte doch das große Bücherhaus Jansen, eine Institution in der Stadt, Anfang desselben Jahres geschlossen. Regelmäßig berichten auch die Medien über das Sterben der Buchhandlungen und rückgängige Umsatzzahlen. Rund 3.800 Sortimentsbuchhandlungen zählte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Jahr 2015*, Tendenz sinkend.
Melanie Enders bleibt gelassen: „Schon als die Hörbücher kamen sagten alle, der Buchhandel würde sterben, das Gleiche dann als der Onlineversand aufkamen und die E-Books. Aber gestorben ist der Buchhandel noch nicht.“ Lesen sei auch nach wie vor wichtig: „Es bildet und regt zum Denken an. Intelligente Menschen lesen.“
Nach der Absage der Rüsselsheimer Finanzhäuser schickten die beiden Buchhändlerinnen und Vielleserinnen ihr Konzept weiter, unter anderem an die GLS Bank. Den Tipp gab ihnen ein Familienmitglied, das dort schon Kunde war.
In der Frankfurter GLS Filiale stießen die Gründerinnen auf einen Kreditbetreuer, der gleich neugierig war. welche Menschen entgegen dem Trend ein solches Projekt angehen wollten. Enders und Vazquez waren zuversichtlich. „Eine Stadt mit 63.000 Einwohner*innen, ohne Buchladen! Wo könnten die Voraussetzungen besser sein als in Rüsselheim, wo man uns kennt?“
Kredit mit Auflage
Ganz leicht fiel ihnen die Entscheidung dennoch nicht. Beide hatten im Bücherhaus Jansen ihre Ausbildung gemacht, wollten dieses allerdings nicht übernehmen. „Mit 800 Quadratmetern war das einfach zu groß. Es lief auch nicht mehr so gut. Die Kosten für Personal und Miete hätten wir nicht stemmen können. Und wir hatten damals keine Ahnung von den Zahlen und der Buchhaltung.“ Bei einer Tasse Kaffee fiel dann im September 2014 die Entscheidung: „Wir versuchen es zusammen neu, mit einem kleinen, gemütlichen Laden, in dem die Kunden stetig neue Dinge entdecken können.“ Beide waren von Rüsselsheimer Bekannten und Freunden immer wieder dazu ermuntert worden. „Eröffnung am besten noch vor Ostern“, erinnert sich Melanie Enders. Das klappte dann auch. „Beim Zahlenwerk für den Businessplan hat uns eine Bekannte sehr geholfen. Als Unternehmensberaterin, die sonst Firmen vor der Pleite bewahrte, freute sie sich, einmal etwas mit guten Aussichten auf Erfolg unterstützen zu können.“ Die GLS Bank war mit dem Resultat zufrieden und sagte den Kredit zu – mit der Auflage, einen Buchhaltungskurs zu absolvieren.
„Wir fanden es super, dass die Bank soziale und ökologische Projekte unterstützt“, sagt Enders. „Wir achten selbst auf Nachhaltigkeit, haben die Regale gebraucht gekauft, verzichten bewusst auf Plastiktüten und wer sein Buch auf die Hand nimmt, kann bei uns Punkte auf der Baumsparkarte sammeln.“ Nach zehn Mal „ohne Verpackung“ ist die Karte voll und Kapitel 43 pflanzt einen Baum.
Auf allen Kanälen
„Zeit für gute Bücher“ ist das Motto von Kapitel 43. Die Rüsselsheimer scheinen das ernst zu nehmen. Die Buchhandlung läuft. Auf 130 Quadratmetern gibt es ein gut gemischtes Sortiment, darunter natürlich Bestseller, aber auch eine große Auswahl an Jugend- und Kinderbüchern, „Geheimtipps“ und Bücher von lokalen Autoren. Zum Erfolg trägt unter anderem die Kooperation mit Schulen und Kitas bei. „Die Schulen bestellen Klassensätze und Schulmaterial“, so Enders. „Kitas brauchen Bilder-, Vorlesebüchern oder Fachliteratur.“ Neben Stammkunden schauen viele Pendler auf dem Weg zur Arbeit vorbei; Kapitel 43 liegt nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt in einer Einkaufsstraße.
In ihrer Veranstaltungsreihe „Das Känguru liest“ stellen Vazquez und Enders zweimal im Jahr ihre Lieblingsbücher der Saison vor und verzichten dabei bewusst auf Bestseller. Denn „die schönsten Schätze findet man meist nicht da, wo alle suchen.“ Noch mehr Bücher empfehlen sie in einer Morgensendung auf Radio Rüsselsheim bei einem literarischen Frühstück. Und auch auf Facebook posten sie regelmäßig Neuigkeiten.
Wer nicht genau weiß, was er kaufen möchte, den führen Sara Vazquez und Melanie Enders mit gezielten Fragen zum richtigen Buch. Manche erinnern sich an ein Buchcover, manche wissen nur, wem sie ein Buch schenken möchten, andere kennen nur Teile der Handlung. „Da hilft es schon, wenn man selbst viel liest und sich mit Kollegen austauscht“, meint Enders. Beim Einkauf arbeiten die Buchhändlerinnen mit eBuch zusammen, einer Genossenschaft kleinerer und mittlerer Buchhandlungen. So sichern sie sich günstige Konditionen und schnelle Lieferzeiten.
Warum Kapitel 43?
Diese Frage wird so häufig gestellt, dass sie auch auf der Website einen festen Platz hat. Der Name bezieht sich auf das gemeinsame Lieblingskapitel Buchhändlerinnen aus „Die Känguru-Chroniken“ von Marc-Uwe Kling.
Knapp 18 Monate nach Eröffnung sind die erwirtschafteten Erträge höher als ursprünglich im Businessplan prognostiziert . Die beiden Jungunternehmerinnen können sich aus den Einnahmen ein Gehalt auszahlen und haben eineinhalb Arbeitsplätze geschaffen. Tendenz steigend.
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Buchtipp von Melanie Enders und Sara Vazquez:
Meine wundervolle Buchhandlung
Autorin Petra Hartlieb kauft aus einer Schnapsidee heraus eine alte Wiener Traditionsbuchhandlung. Sie kündigt ihren Job und berichtet in diesem Buch von ihrem „neuen“ Leben mit, zwischen und um Bücher. Von der Freude und dem Frust, den viele Kunden bringen, von alten und neuen Bekanntschaften, Stammkunden und Freunden. Eine Geschichte, die uns sehr bekannt vorkommt 😉 und ein wirklich schönes Buch für alle, die sich schon immer gefragt haben, was eigentlich das Beste am Beruf des Buchhändlers ist.
„Zeit für Bücher“ auf Radio Rüsselsheim per Livestream, jeden Sonntag von 8 bis 9 Uhr.
*Entwicklung Sotimentsbuchhandlungen
2015 gab es 3.800 Buchläden, 2014 3.896, 2013 4.038, 2012 4.137, 2011 4.195. Schließungen sind häufig auf den Filialrückgang großer Buchhandelsketten zurück zu führen. Grund für die Schließung kleiner Buchhandlungen ist häufig der Mangel an Nachfolgern.
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