Obwohl ich mit dem Feminismus aufgewachsen bin, habe ich als junge Frau noch festgefahrene Gedankenmuster. Das fällt mir immer wieder – nicht nur am Weltfrauentag – auf. Doch ich kann etwas dagegen tun.
Als ich den Stundenplan für das kommende Frühjahrssemester prüfe, fällt mir ein Name auf: Prof. Bergmann [Name geändert]. Er betreut ein Modul, das ich wählen möchte. Zumindest nehme ich an, dass Prof. Bergmann ein Mann ist. Allein die Tatsache, dass die Person einen akademischen Titel trägt und eine Führungsrolle innehat, lässt mich glauben, dass es sich um einen älteren weißen Mann handeln muss. Bis ich das Foto von ihr sehe. Unangenehm. Aber wie kam es zu dieser Verwechslung?
Einen akademischen Titel oder eine bestimmte Berufsgruppe in Gedanken sofort mit einem Mann zu verknüpfen, ist leider normal.
Professor im Ballettröckchen
Stelle dir bitte kurz einen Professor vor, der im Ballettröckchen eine Vorlesung hält. Hast du auch an einen Mann mit zerzausten Haaren gedacht, der in einem rosa Kleidchen herumtänzelt?
Wenn ja, bist du eine*r von Vielen. Das zeigt eine Untersuchung mit ähnlicher Fragestellung an der Boston University. Sogar junge Menschen und Feministinnen scheitern an diesen festgefahrenen Gedankenbildern. Ganz automatisch denken wir bei Ärzten, Richtern, Politikern an Männer. Macht und Führung sind eng mit einem Bild verknüpft: Und dieses Bild ist noch männlich. Wie sich das ändern kann? Die Psychologinnen, die dieses Experiment durchführten, merkten an, dass die Menschen sich zuerst über diese Voreingenommenheit bewusst werden müssen. Erst dann könne man die Verknüpfung auflösen.[1]
Der 101. Weltfrauentag
Mir wird klar, dass ich also nicht wirklich schuld daran bin, wenn ich bei Führungspersonen einseitig denke. Auch wenn morgen, am 8. März 2022, der 101. Weltfrauentag gefeiert wird, sehe ich im Alltag noch zu selten Frauen in der Führungsebene. Die Statistiken bestätigen meinen Eindruck. Nur etwas mehr als zehn Prozent der Vorstandsposten der 200 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland sind von Frauen besetzt.
“Once little girls can see it, little girls can be it“, fasst Amanda Gorman[2] das Problem zusammen. Die Poetin sagte dies nach der Amtseinführung von Kamala Harris als erste Vizepräsidentin der USA. Was sie damit meint: Erst wenn Mädchen Frauen wie Kamala Harris sehen, können sie sich vorstellen auch einmal Präsidentin zu werden. Es braucht also definitiv mehr Frauen als Vorbilder, damit die Gleichstellung der Geschlechter real wird.
Wenn du wissen willst, wie es mit der Gleichstellung der Geschlechter bei der GLS Bank aussieht, kannst du auf dieser Webseite der Bank viel über Chancengleichheit und den Gender Pay Gap erfahren.
Selbst zum Vorbild werden
Oder weiter gedacht: Kann die aus dieser Situation gewonnene Erkenntnis vielleicht ein Aufruf sein, dass wir Frauen selbst zum Vorbild werden müssen?
Oder sind im Grunde nicht alle Menschen zu der einen, wichtigsten Führungsposition ihres Lebens aufgerufen? Nämlich: sich selbst zu führen. Um sich selbst an die Orte, die Tätigkeiten, die Berufe und Berufungen oder was auch immer hinzuführen.
Nur ist dies leichter gesagt, als getan. Wie die Feministin Virginia Woolf es bezeichnet, stellt sich uns ein gewisses Phantom immer wieder in den Weg. Dieses Phantom neigt dazu, Frauen zu ermahnen, immer lieb, zärtlich und weich zu sein. Im Sinne von Virginia Woolf sollten diese Attribute, die eine Frau daran hindern, ihre Ziele zu erreichen, eliminiert werden und durch die jeweiligen eigenen Charakterzüge ersetzt werden.[3]
Dann übernehme ich als Mensch, als Frau Verantwortung. Verantwortung dafür, ob ich mich meinen Zielen nähere oder mich davon entferne. Warum nicht auch wild, wütend und willensstark sein?
Der Welt meine Persönlichkeit schenken
Chancengleichheit bedeutet für mich die Freiheit, selbstbestimmt leben zu können, und der Welt die Vielfältigkeit meiner Persönlichkeit zu schenken. Deshalb ist der Weltfrauentag für mich kein Frauengedenktag, sondern ein Tag der Ermutigung. Es geht darum, dass jede Frau ihren individuellen Weg durchs Leben gehen kann und darf.
Dafür reicht jedoch ein Weltfrauentag im Jahr nicht aus. Jeden Tag sollte uns bewusst sein, dass noch einiges für die Gleichberechtigung aller Geschlechter getan werden muss. Angefangen bei der Bewusstmachung unserer Gedanken. Denn daraus kann die Wirklichkeit gestaltet werden. Und wie diese aussieht, liegt demnach in unserer Verantwortung.
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Quellen:
[1] Boston University (2014): URL: https://www.bu.edu/articles/2014/bu-research-riddle-reveals-the-depth-of-gender-bias
[2] ZEIT (2021): URL: https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-01/gleichstellung-frauen-chancengleichheit-mindestbeteiligung-vorstaende-benachteiligung-karriere-beschluss
[3] Woolf, Virginia (2021): Freiheit ist erst der Anfang, Arche Literatur Verlag AG, Zürich-Hamburg