Projekt Ich – Gastbeitrag vom Wirtschaftsmagazin enorm

Schöner, gesünder, optimierter – immer mehr Menschen arbeiten verbissen an sich selbst. Auch aus Angst, abgehängt zu werden. Darüber vergessen wir, dass es etwas viel Wichtigeres gibt.

Kurzfassung

enorm_teaserAls ich ein Kind war, verliefen nicht nur der Anfang und das Ende des Tages nach einem wiederkehrenden, verlässlichen Muster, sondern auch die Mitte hatte ihr Ritual: Meine Familie aß gegen 13 Uhr. Dann räumten wir den Tisch ab. Dann legte sich mein Vater auf die Couch. Er hielt Mittagsschlaf.

An einem Abend, beim Wein, erzählte ich Freunden von dieser Angewohnheit, die mir gewagt und beneidenswert zugleich erschien. Eine Freundin sagte: Mein Vater hat’s genauso gemacht. Ein anderer Freund gestand: Meiner auch, das hatte ich ganz vergessen. Wir kicherten, als hätten wir uns von geheimen Drogenerfahrungen unserer Eltern berichtet. Mittag für Mittag, nachdem erst die Hälfte des Tagewerks erledigt ist, zu ruhen – das schien uns fern, wie eine Erzählung aus einer anderen Epoche. Einfach Pause machen? Ohne zu arbeiten? Mails zu checken? Sport zu treiben? Ohne auch nur einen Punkt auf der To-do-Liste abzuhaken?

Die hatten Nerven, dachten wir. Und: Heute wäre das unmöglich.

Dabei trennt uns nur eine Generation. Dabei sind unsere mittagsschlafenden Väter gerade erst in Rente gegangen. Auch sie hatten Arbeit, Kinder, viel zu tun – wie wir. Was ist seitdem eigentlich passiert? Warum fanden sie die Muße, sich auf dem Sofa auszustrecken? Und wir nicht?

Wenn ich meinen Vater nach seinem Leben frage, wenn ich wissen will, wie er seine Karriere geplant hat, warum er sich entschied, in der Stadt zu bleiben, in der er geboren wurde, warum er genau in der Straße, in der ich aufwuchs, ein Haus gebaut hat, dann antwortet er oft: Na ja, das kam halt so. Dann denke ich: Das kam halt so? Und merke, dass uns viel mehr trennt als der eingesparte Mittagsschlaf. Denn ich weiß: Uns soll nicht „halt so“ passieren. Der Drang, unser Leben im Griff zu haben, zu managen, zu planen, ist viel beschriebener Zeitgeist. Unsere soziale DNA.

„Wenn es so etwas wie ein allgemeines Credo in den westlichen Demokratien gibt, dann dieses: Du musst immer besser werden“, schreibt der Journalist Klaus Wehrle in seinem Buch „Die Perfektionierer“. Wir, stellt er fest, sehen uns als Unternehmer des eigenen Selbst. Und betrachten unsere Leben folglich als „etwas, das sich verfeinern, überarbeiten und verbessern lässt“, analysiert die Philosophin Renata Salecl. Permanent stellen wir uns Aufgaben: Wie mache ich mehr aus meinem Leben? Wie werde ich leistungsfähiger? Fitter? Schöner? Wie hole ich das Optimum raus, aus diesem Tag, aus dem nächsten, aus jedem?

Werfen wir ein paar Blitzlichter, zuerst an den Anfang oder präziser: vor den Anfang des Lebens. Kinder entstehen heute nicht mehr „halt so“. Sie sind meist geplant, gewünscht. Es ist aus Sicht der allermeisten wohl unbestrittener Fortschritt, dass der Sex von der Geißel der ungewollten Schwangerschaft befreit ist. Wer aber in seinem Körper eine gerade befruchtete Eizelle zum Arzt trägt, der spürt, wie radikal wir den Anfang des Lebens der menschlichen Planung, dem Drang nach Perfektion unterworfen haben. Sofort werden Test angekündigt, die den Zellhaufen auf Gesundheit prüfen.

Spulen wir vor. Die Geburt, perfekt vorbereitet, in der Klinik der Wahl, dem Geburtshaus oder – vermeintlich sanft – zu Hause, aber bloß nicht irgendwo, „halt so“. Eine unbeschwerte Kindheit? Vorbei. Wenn der Mensch sein eigenes Leben als Unternehmen definiert, ist das Kind das wichtigste Investitionsobjekt. Diese Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen. Unser Essen, unser Schlaf, unsere Schritte – alles wird gezählt, vermessen und optimiert. Nur: Die Zeit, die wir damit verbringen, das eigene Ich zu tunen, um auf härteren Märkten bestehen zu können, fehlt uns für etwas, das wesentlicher wäre: Sie fehlt uns, um die Welt, die wir vorfinden, zu prägen, zu ändern. Den vollständigen Text von Autorin Julia Friedrichs lest ihr in enorm 02/2015.

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